»Vertrauen ist für mich eine Grundhaltung« – Musikalische Anregungen zur Improvisationskultur
Life is a lot like Jazz … it’s best when you improvise. (George Gershwin)
Im Zuge der zunehmenden VUCA-ness der Wirtschaftswelt glaube ich, dass in der Improvisationsfähigkeit von Individuen, Teams und Organisationen eine zunehmend wichtiger werdende Kompetenz liegt: Wenn ich aufgrund von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität nicht mehr sicher sein kann, dass mein Plan von heute morgen noch Gültigkeit haben wird, so wird ein spontanes Handeln aus dem Moment heraus wichtig. Wenn ich zusätzlich immer schneller agieren muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben, jedoch auf keinerlei Planungsgrundlage zurückgreifen kann, so kann ich nur noch über Trial and Error Ergebnissicherheit aufbauen. Wenn sich die Vorzeichen jederzeit ändern können und ich in immer kürzeren Zyklen zur Anpassung und Neuausrichtung gezwungen werde, so wird Improvisation auch aus finanziellen Gesichtspunkten interessant: Eine perfekte Struktur aufzubauen kostet viel Zeit und Kapazitäten. Brauche ich jedoch in jedem Fall eine perfekte Struktur? Vor allem, wenn die Fälle immer weniger Standard und immer mehr »customized« werden? Salopp formuliert: Perfekt orchestrierte Unternehmen werden zunehmend Jazzbandqualitäten beweisen müssen, um sich in der VUCA-Welt erfolgreich zu behaupten.
Während der letzten SophiaWerkstatt starteten wir im Rahmen dieser Hypothese folgendes Experiment: Wir luden die beiden Musiker Ulla Oster (Kontrabass) und Vincent »Themba« Goritzki (Gitarre) ein, gemeinsam einen Abend lang zu improvisieren. Jedoch baten wir sie, vorher nicht miteinander in Kontakt zu treten. Wir wollten die musikalische Möglichkeit der Improvisation aus der spontanen Begegnung heraus ausloten und anschließend in einen Dialog über Grundprinzipien der Improvisation gehen.
Ich selbst erwartete den Veranstaltungteil mit einiger Aufregung: Es gab natürlich keinerlei Gewissheit, dass die Melodien und Rhythmen, die die beiden Musiker im Zusammenspiel ihren Instrumenten entlocken, bei den Teilnehmenden auf wohlwollendes Gehör stoßen würden. Meine Aufregung steigerte sich noch, als die beiden zu spielen begannen: amorph und chaotisch, ohne zu erkennende Gleichklänge, mehr Geräusch als das, was man landläufig unter Musik versteht. Doch dann etablierten sich langsam, im gegenseitigen Abtasten und aufeinander Reagieren die ersten Strukturen. Harmonien wurden aufgenommen, Melodielinien aufgegriffen und weitergesponnen, ein Rhythmus eroberte das Chaos – es klang! Die ersten Zehenspitzen wippten mit. Es klang immer mehr… Nach einer Dreiviertelstunde einigten sich die beiden Musizierenden im Blickkontakt, dass ihre Improvisation nun beendet sei, verbeugten sich zuerst kurz voreinander und anschließend vor dem Publikum. Sie ernteten begeisterten Applaus der anwesenden Führungskräfte und Unternehmensvertreter.
Im anschließenden Interview klopften wir zunächst die Grundlagen des gemeinsamen Spiels ab und öffneten anschließend die Diskussion mit den Zuhörern. Ich möchte aus diesem Dialog einige Gesprächspassagen aus dem Gedächtnis rekonstruieren, die mich besonders berührt haben, da sie aus meiner Perspektive paradigmatisch illustrierten, worin die Grundlage für ein erfolgreiches gemeinsames Improvisieren liegt. Sie zeigen außerdem, wie unterschiedlich die Denkweisen zwischen uns Zuhörern und den Musikern waren.
Zuhörer: So nach einer Dreiviertelstunde gemeinsam Spielen: Wie findest Du ihn? Wo ist er gut, wo nicht so…
Musikerin: Das ist viel zu früh, um das zu beantworten, ich kenne ihn noch viel zu wenig…
Zuhörer: Während des Stücks ist mir aufgefallen, dass ihr Euch immer wieder in der Führung abgewechselt habt: Mal hat der eine geführt und der andere ist gefolgt, dann anders herum. Wie ging das?
Musiker: Für mich war das keine Frage von Führen und Folgen. Wir haben da eher einen Dialog auf Augenhöhe geführt…
Zuhörer: An einer Stelle ist er lauter geworden und Du bist dann in den Widerstand, hast Dich gewehrt, bist in Konflikt gegangen…
Musikerin: Da hatten wir aber keinen Konflikt, es ging da nicht um Macht. Ich bin einfach nur der Energie gefolgt.
Musiker: Das ist eher wie bei einer Unterhaltung, die – zum Beispiel aus Begeisterung – angeregter, lauter wird. Und man wird dann auch lauter, ohne es selbst so richtig zu merken…
Zuhörer: Ihr kanntet Euch ja gar nicht. Wie hast Du Vertrauen zu ihr aufgebaut?
Musiker: Das war von Anfang an da. Vertrauen ist für mich eine Grundhaltung.
Vier Gedankenanstöße der Musiker also für eine neue Improvisationskultur in Unternehmen:
- Den anderen respektvoll und zurückhaltend erst einmal so sein lassen, wie er ist, ohne ihn schnell einzuordnen und seine Leistung zu bewerten;
- einen gleichberechtigten Dialog führen statt Führung und Gefolgschaft auszuhandeln;
- Energien verstärken und gemeinsam nutzen statt um Macht zu ringen und sich zu bekämpfen;
- Vertrauen schenken statt es sich verdienen zu müssen…
Ich könnte mir vorstellen, dass mit der musikalisch inspirierten Haltung nicht nur ein Improvisieren im Unternehmen möglich wird, sondern Zusammenarbeit generell noch besser gelingen könnte. Eine schöne Einladung der Musiker zum Experimentieren, Improvisieren im eigenen Handlungsfeld und Unternehmensbereich…
Johannes Ries