David Mitchell: The Thousand Autumns of Jacob de Zoet

Für mehr als 200 Jahre lang schottete Japan sich fast komplett vom Rest der Welt ab: Kein Ausländer durfte das Land betreten, kein Japaner ausreisen. Der einzige Kontakt zur Außenwelt war damals (von den 1630er-Jahren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts) eine Insel vor Nagasaki, auf der sich Angehörige der niederländischen Ostindien-Kompanie aufhalten durften, um mit Japan Handel zu treiben. Diese Insel, Dejima, war künstlich aufgeschüttet und sehr klein. Die ansässigen Nicht-Japaner hielten sich oft über mehrere Jahre dort auf, ohne die Insel jemals verlassen zu dürfen, und zwei Kulturen, die völlig unterschiedlich ticken, prallten auf engstem Raum aufeinander: ein perfektes Setting also mit reichlich Konfliktpotenzial für einen historischen Roman.

Es ist sein fünfter Roman, erschienen 2010 (deutsch 2014), den David Mitchell um 1800 in Dejima spielen lässt. Schon der Titel »The Thousand Autumns of Jacob de Zoet« klingt besonders – auch wenn man weiß, dass die Japaner ihr Königreich »Land der Tausend Herbste« nannten – und dieses Buch ist auch ein besonderes Leseerlebnis.

Jacob de Zoet kommt als junger Kaufmann aus Holland nach Dejima. Er hat zwei Aufträge: Er soll die Buchhaltung der letzten Jahre für die niederländische Ostindien-Kompanie in Ordnung bringen. Und er soll genügend Geld machen, um Anna, seine in den Niederlanden zurückgebliebene Angebetete, heiraten zu können.

Für den hauptsächlich rechtschaffenen und integeren Jacob erweist sich Dejima als ein Wespennest. Der Handel zwischen Japan und der Ostindien-Kompanie funktioniert nur noch durch Korruption, sowohl auf Seiten der Japaner als auch der Holländer, und die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind bereits sehr gespannt. Jacob stellt schnell fest, dass er sich mit seinem bedingungslosen Streben nach Wahrheit keine Freunde macht – nicht einmal bei seinem Vorgesetzten, von dem er den Auftrag hatte, die Bücher zu korrigieren. Diese Geschichte allein hätte wahrscheinlich für einen interessanten Gewissenskonflikt gereicht, zumal Jacob als überzeugter Christ, aber auch als jemand, der den Sitten und der Kultur eines fremden Landes mit Respekt begegnet, einen Psalter nach Japan schmuggelt, obwohl dort zu jener Zeit jegliche christliche Praktiken streng verboten sind – es könnte ihm sogar die Todesstrafe dafür drohen.

Was Jacob bald viel mehr belastet, ist jedoch, dass er sich in eine junge Japanerin verliebt, die Hebamme und Medizinstudentin Orito Aibagawa. Sie hat die Sondererlaubnis, unter dem ebenfalls auf Dejima ansässigen Arzt Dr. Marinus zu studieren, weil sie das Baby eines hochrangigen Machthabers in Nagasaki – und die Mutter – bei der Geburt durch ihr Wissen und Geschick vor dem Tod rettete. Natürlich ist eine Beziehung zwischen Orito und Jacob völlig undenkbar, aber bevor es dazu kommen könnte, verschwindet Orito sowieso: Sie wird gegen ihren Willen von ihrer Stiefmutter verkauft und in ein Kloster verschleppt, um das sich alle möglichen Gerüchte ranken und das ein schreckliches Geheimnis birgt. Klingt märchenhaft, und der Leser bekommt hier auch alles geboten: Ehre, Anstand und Loyalität im Kampf gegen Gier, Wahnsinn und Verrat, eine Entführung, öffentliche und mafia-artige Hinrichtungen, Samurai, die ein Kloster überfallen, eine streng geheime Schriftrolle, hinter der alle her sind, sinistere sexuelle Praktiken und im Zentrum von allem ein grausames Verbrechen. Für die zahlreichen unerwarteten Wendungen hat Ron Charles in seiner Rezension in der »Washington Post« den treffenden Begriff »thrillus interruptus« gefunden.

Es ist eine ungewöhnlich konventionelle Geschichte für einen Mitchell-Roman und auch der Erzählstil ist überraschend linear. Die meisten seiner Bücher sind gekennzeichnet von einem Spiel mit Intertextualität, auch zwischen seinen eigenen Werken, von der Vermischung von Realität und Fiktion und Sprüngen zwischen Genres, weshalb einige Leser von »The Thousand Autumns of Jacob de Zoet« enttäuscht und verwirrt waren. Trotzdem ist diese Geschichte packend zu lesen. Sie ist virtuos geschrieben: So einige Sätze klingen wie aus einem Gedicht. Die Sprache rückt auch dadurch in den Mittelpunkt, dass Jacob Japanisch lernt, obwohl es Ausländern strengstens untersagt ist, und die Übersetzer auf beiden Seiten den Lauf der Handlung entscheidend beeinflussen.

Durch Mitchells meisterhaften Schreibstil entsteht vor den Augen der Leser eine Welt, die lebendiger und plastischer kaum sein könnte. Er fängt das Gefühlsleben seiner Figuren ein, indem er immer wieder die Zeit verlangsamt, fast anhält, und detailreich wiedergibt, was sich in Sekundenbruchteilen in den Köpfen abspielt – einige Passagen erinnern fast an James Joyce. Selbst für die Handlung unwichtige Nebenfiguren erhalten so ein reiches Innenleben und berührende Schicksale.

Bei der Frage, ob Mitchell die historischen Figuren, insbesondere ihre Sprechweise, nun authentisch darstellt oder nicht, sind sich die Rezensenten nicht einig. In einem Essay über historische Romane, den Mitchell im Erscheinungsjahr des Romans, 2010, im »Daily Telegraph« veröffentlichte und der als Anhang in der englischen Taschenbuchausgabe enthalten ist, erklärt der Autor dazu, dass das Problem mit einer allzu historisch korrekten Wiedergabe der Sprechweise sei, dass sie keiner lesen will, weil das in Anstrengung ausarten und paradoxerweise erst recht künstlich-falsch klingen könnte. Dazu ist es vielleicht interessant zu wissen, dass Mitchell acht Jahre als Englischlehrer in Japan gelebt hat und heute mit einer Japanerin verheiratet ist, mit der er mittlerweile in Irland lebt.

So oder so ist »The Thousand Autumns of Jacob de Zoet« absolut empfehlenswert, sowohl als historischer Roman als auch für Leser mit hohen Ansprüchen an zeitgenössische Literatur.

Originalausgabe:
David Mitchell: The Thousand Autumns of Jacob de Zoet
Hodder and Stoughton 2011 | 560 Seiten

Deutschsprachige Ausgabe:
David Mitchell: Die Tausend Herbste des Jacob de Zoet
Deutsch von Volker Oldenburg
Rowohlt 2014 | 720 Seiten

Sabine Anders

Haruki Murakami: 1Q84

Ein Mensch braucht so etwas, um zu leben. Ein Bild oder eine Szene, deren Bedeutung er nicht in Worte fassen kann. Der Sinn unseres Lebens besteht darin, dieses Etwas zu ergründen. Finde ich.

»1Q84« fängt relativ realistisch an: Es spielt im Japan des Jahres 1984. Aomame, Anfang 30, bringt im Auftrag einer alten Dame Männer um, die Frauen misshandeln. Tengo, auch Anfang 30, schreibt als Ghostwriter im Auftrag eines Redakteurs ein Roman-Manuskript für einen Literaturpreis um. Tengo und Aomame waren als Kinder zusammen in der Schule, haben sich aber seitdem aus den Augen verloren. Durch die Veröffentlichung des von Tengo umgeschriebenen Romans, Die Puppe aus Luft, der auf Anhieb ein Bestseller wird, geraten beide in das Jahr 1Q84. Auf den ersten Blick unterscheidet es sich nicht sonderlich von dem Japan, das sie kennen, aber nach und nach nimmt es immer mehr Züge aus der Welt von Die Puppe aus Luft an.

Die ursprüngliche Autorin von Die Puppe aus Luft ist die 17-jährige Fukaeri, die vor allem deshalb etwas sonderlich ist, weil sie in einer Sekte aufgewachsen ist, die ihr Vater mit begründet hat. Die Sekte, die »Vorreiter«, lehnen die materialistische Gesellschaft ab und streben stattdessen nach einem Leben in Askese und im Einklang mit der Natur. Sie betreiben Landwirtschaft, meditieren und üben viel Yoga – nur haben sie im Innern ein schreckliche Geheimnis: Ihr Anführer schläft mit zehnjährigen Mädchen, Mädchen vor ihrer ersten Menstruation.

Neben Fukaeri gelingt einem weiteren dieser Mädchen die Flucht aus der Sekte. Es gerät in die Hände der alten Dame, die Aomames Auftraggeberin ist, und von da an ist beschlossene Sache, dass Aomame den Sektenführer töten soll. Es soll ihr letzter Auftrag sein, danach soll sie eine neue Identität bekommen und mit Hilfe einer Gesichtsoperation an einem weit entfernten Ort ein neues Leben anfangen.

Aber schließlich sind wir im Jahr 1Q84: Als Aomame den Sektenführer trifft, erklärt er ihr, dass alles nicht unbedingt so ist, wie es scheint. Der Taxifahrer zu Beginn des Romans hatte sie schon davor gewarnt, sich vom äußeren Schein täuschen zu lassen, und ihr eingeschärft: »Es gibt immer nur eine Realität.« In »1Q84« gibt es keinen Big Brother, sondern die Little People. Wer sie sind, kann niemand so genau sagen, nur, dass sie schon immer da waren, dass es Menschen gibt, die ihre Stimmen hören, und dass sie etwas mit dem Gleichgewicht von Gut und Böse in der Welt zu tun haben.

Fukaeri kann die Little People sehen und hören und, wie Aomame es gegenüber dem Sektenführer auf den Punkt bringt: »Durch die ideelle, mehrdeutige Vergewaltigung Ihrer Tochter wurden Sie zum Repräsentanten der Little People.« Bringt Aomame den Sektenführer um, werden die Little People sich rächen und im Gegenzug den Leuten etwas antun, die sie liebt. Der Leibwächter der alten Dame hielt es von Anfang an für keine gute Idee, denn – wie er Aomame und der alten Dame sagt – sie können das Böse nicht abschaffen, egal wie viele einzelne Verbrecher sie töten.

Wie »1Q84« ausgeht, will ich hier nicht verraten. Das Buch ist spannend, auch für Leser, die kein Fan von magischem Realismus sind. Es wirft interessante Fragen über Literatur und Realität sowie Gut und Böse auf, und bringt manche Dinge ganz gut auf den Punkt, zum Beispiel den Unterschied zwischen Literatur und Aktienmarkt: In der Literatur gibt es im Guten wie im Schlechten Beweggründe, die nichts mit Geld zu tun haben.

Haruki Murakami: 1Q84
Deutsch von Ursula Gräfe | DuMont 2010 | 1.021 Seiten

Sabine Anders