Joseph Conrad: Lord Jim
I tell you my friend, it is not good for you to find you cannot make your dream come true, for the reason that you not strong enough are, or not clever enough.
Die für das Englische etwas merkwürdige Satzstellung dieses Zitats rührt daher, dass es der deutsche Schmetterlingssammler Stein ist, der das Problem des titelgebenden Protagonisten in Joseph Conrads Roman auf diese Weise diagnostiziert. »Lord Jim«, geschrieben exakt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, ist in der Tat ein Buch über das vergebliche Streben des Menschen, seine unerfüllbaren Träume zu verwirklichen, aber Jims Fall ist noch weitaus komplizierter.
Jim ist ein junger englischer Seemann, der, von der entsprechenden Literatur inspiriert, davon träumt, Heldentaten zu vollbringen, aber stets im entscheidenden Moment, wenn sich ihm die Möglichkeit dazu bietet, versagt. Er versagt nicht nur, weil er unvorbereitet ist und in der Wirklichkeit alles schneller vor sich geht als in der Fiktion, sondern auch, weil es im realen Leben im Gegensatz zu seinen Träumen nie so einfach ist, das Richtige zu tun.
Jim verliert seine Berufsehre, weil er die Patna, das Schiff, auf dem er arbeitet, im Stich lässt, als es zu sinken droht. Er schließt sich freiwillig und doch irgendwie gegen seinen Willen der desertierenden Crew an, die nicht einmal einen Versuch unternimmt, die zahlreichen Passagiere zu retten, weil die Rettungsboote fehlen und es angesichts des durchrosteten Zustands der Patna von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen scheint. Jims Verhalten in dieser Situation wird zu der einen Handlung, die sein ganzes weiteres Leben bestimmt.
Jim ist der Einzige der Besatzung, der nicht wegläuft, sondern sich dem darauffolgenden Gerichtsverfahren stellt. Er will erklären, was ihn dazu gebracht hat, gegen den Kodex seiner Seemannsehre zu verstoßen, doch die nackten Tatsachen, die das Gericht verlangt, und die Sprache selbst, das Ausdrucksmittel, das ihm zur Verfügung steht, erweisen sich als unzureichend für die Ermittlung und Vermittlung der Wahrheit.
Jim lernt bei dieser Gerichtsverhandlung Marlow kennen, der begierig darauf ist, Jims Begründung für sein unehrenhaftes Verhalten zu erfahren und dabei geradezu von philosophischen Überlegungen getrieben wird. Marlow, der zum Haupterzähler von Jims Geschichte wird, will an das Gute im Menschen glauben, seine schlechten Seiten »wegerklären«, gelangt aber genau wie Jim zu der unsicheren Einsicht, dass Menschen nicht grundsätzlich schlecht sein müssen, selbst wenn sie in manchen Situationen schlecht handeln, dass im Grunde keiner besser ist als der andere, und daher niemand mit Gewissheit sagen kann, ob er an Jims Stelle auf der Patna geblieben wäre, anstatt seine eigene Haut in Sicherheit zu bringen.
Marlow sieht sich mit der Frage konfrontiert, inwiefern angemessenes oder heldenhaftes Verhalten allein durch Beobachtetwerden, durch den Druck von außen motiviert ist, und nicht etwa darauf beruht, dass das menschliche Wesen von sich aus voll von großherzigen Impulsen wäre. Niemand, so Marlows Erkenntnis, ist gefeit davor, im Ernstfall dem Überlebensinstinkt zu gehorchen, anstatt sich heroisch einem Ehrenkodex aufzuopfern. Schon bald ist in der Erzählung allerdings gar nicht mehr so wichtig, herauszufinden, warum genau Jim nicht das Richtige getan hat, oder Schuldzuweisungen zu verteilen. Der Leser erfährt Jims Geschichte über die Ecken vieler Erzähler, und stets wird von Marlow betont, wie unsicher alle Erkenntnis über die Vorgänge in Jims Innerem ist, wie er sich eindeutigen Beurteilungen und Erklärungsversuchen entzieht.
Marlow verhilft Jim zu verschiedenen Jobs, damit er sich einen Lebensunterhalt verdienen kann, doch Jim verlässt jeden einzelnen freiwillig nach kurzer Zeit, sobald nämlich im näheren Umkreis die Patna-Affäre erwähnt wird, auch ohne dass jemand weiß, welche Rolle er dabei gespielt hat. Wie Marlow festhält, ist es schwer zu sagen, ob Jims Verhalten bedeutet, dass er sich der Selbsterkenntnis seines eigenen Charakterfehlers stellt oder vor ihr in die Selbsttäuschung flieht.
Hat er seinen Selbstrespekt verloren, und entspringt seine stete Flucht seinem Gefühl der Unzulänglichkeit? Oder ist sie dadurch bedingt, dass er nicht bereit ist, Anfechtungen seines Charakters hinzunehmen, von Leuten, die sein »wahres Wesen« doch nur verkennen? Was Jim in Marlows Augen von anderen gewöhnlichen »Verbrechern« unterscheidet, ist jedenfalls die Intensität, mit der er seine Beweggründe wahrnimmt und über sie nachdenkt.
Es wundert Marlow, dass Jim weniger seiner verlorenen Ehre nachtrauert als der verpassten Gelegenheit, zum Held zu werden, doch Jim hat nicht aufgehört, nach der Erfüllung seines Traumes zu suchen. Er glaubt an zweite Chancen, an Neuanfänge, und Marlow schickt ihn schließlich auf die abgelegene Insel Patusan, mit der Absicht, ihn aus der bekannten Welt zu schaffen. Dort, wo niemand von seiner Vergangenheit weiß, gelingt es Jim, sich eine neue Existenz aufzubauen und für die Einheimischen zu jenem respektierten und geschätzten Lord Jim zu werden – eine Möglichkeit, die dem heutigen Leser wohl kaum noch offensteht, denn es gibt keine Patusans mehr. Doch selbst in diesem entlegenen Winkel wird auch Jim wird schließlich doch noch von seinem Schicksal eingeholt.
Jims Leben ist geprägt von der bitteren Erfahrung, dass sein in der Fantasie entworfenes, heroisches Selbstbild nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Egal, wie vorbildlich er sich nach dem Patna-Desaster verhält, so kann er sich selbst doch nicht vergeben und seine Vergangenheit nicht vergessen, als viele andere längst dazu bereit wären, und das ist sein Hauptproblem.
Trotz aller Bestätigung seines ehrenwerten Charakters, der ihm seitens der Einwohner Patusans zuteil wird, findet Jim keine Ruhe. Ein Grund dafür ist, dass es für ihn und vor allem für Marlow und andere Betrachter der Respekt seiner englischen Heimat bleibt, der zählt, und er ihn für immer verloren glaubt. Die einzige Heilungsaussicht für Jims Fall wäre sein Tod, wie Stein schon sehr früh und sehr akurat feststellt, und genau diesen wählt Jim am Ende; wie Marlow vermutet, hat er vielleicht sein Leben lang nichts anderes gesucht.
Joseph Conrad: Lord Jim
Englisch | Penguin Classics 2007 | 400 Seiten
Sabine Anders