Rechtfertige Dich

Tiefe Muster – die zweifache Rechtfertigung

Das Abendland hat in seiner langen Geschichte immer wieder eine Forderung an das Leben gestellt: Dein Leben muss einen Sinn haben, es muss auf etwas bezogen sein, dass über das Maß des Lebens hinausgeht. Bei Viktor Frankl kann das etwas sehr Individuelles sein, oft aber geht es um Großes, das einzelne Leben Überspannendes. Manchmal, wie in manchen nationalen Bewegungen kann es bis zur Selbstopferung gehen. Schon in den frühen Fragen an Kinder: »Was willst du denn einmal werden?« schwingt die Sinnforderung mit. Sei nützlich! Gib deinem Leben eine Aufgabe, einen Sinn. Das wiederholt sich im späteren Leben. Die Botschaft bleibt gleich: Wofür tust Du das? Was ist deine Aufgabe? Was ist dein Sinn? Das Leben selbst ist nicht genug, es muss sich auf etwas anderes, etwas Höheres beziehen.

Mit den gerade reüssierenden Purpose-Konzepten ist die Forderung nun auch in der Mitte der Unternehmen angekommen. Es verstärkt noch einmal die Forderung: Verschreibe Dich einer Aufgabe, einem Sinn! Wähle den Arbeitgebenden, der sich selbst einer höheren Aufgabe verschrieben hat. Sei Teil einer Sinngemeinschaft. So lautet dann die dahinterliegende Botschaft: Ein gelingendes, ein erfülltes Leben ist nur möglich, wenn es von Sinn getragen ist. Und in einer Sinngemeinschaft bist du dann auch motiviert, engagiert. Das klingt gut.

Es gibt allerdings eine Schattenseite, die dann oft zur Enttäuschung, Ermüdung, Angestrengtheit, ja zu einem Gefühl des Scheiterns führt. Die Forderung, du musst deinem Leben einen Sinn geben, wird im Laufe des Lebens zu einem inneren Forderungssatz – einem Muss. Er bedeutet zugleich: Du musst Dich rechtfertigen.

Rechtfertige Dich, das ist einer der tiefsten individuell wie kollektiv geteilten Glaubenssätze. Dieser Glaubenssatz ruft zugleich eine Instanz auf, ein Gericht, vor dem man sich rechtfertigen muss. Im Individuellen sind es oft die Eltern, im Überspannenden wird es zunehmend unklar, wer denn dieses Gericht ist.

Was müssen wir eigentlich rechtfertigen? Zunächst müssen wir den Sinn, die Aufgabe, die wir unserem Leben gegeben haben oder die uns mitgegeben wurden rechtfertigen. Ist mein Sinn gegenüber einem außer mir liegenden Maßstab ein guter, ein wertvoller Sinn. Eine Frage an uns, die wir heute auch an die Unternehmen stellen – dient das Unternehmen einem guten Zweck, ist es von einem Purpose getragen, der über seinen engeren Zweck, wirtschaftlich erfolgreich zu sein, hinausweist? Das ist die erste Stufe der Rechtfertigung. Mit ihr ist dann eine zweite Rechtfertigung gegeben: Erfülle ich, erfüllen wir diesen Sinn auch? Und wieder stehe ich und stehen wir vor einem Richter und Geschworenen. (Und im kulturell geprägten Hintergrund noch das Bild, es geht um Himmel oder Hölle.)

Mir begegnen im Coaching immer wieder Menschen, die an diesem Muss und dem erwarteten Urteil verzweifeln, die im Horizont des erwarteten Richterspruchs Lebenslust, Daseinslust verlieren. Ein Coaching, das sich mit dem Mindset auseinandersetzt macht die Sinnforderungen bewusst. Darüber hinaus lässt es erfahren, welche projektiv wirksamen Richter denn das Muss dieses Lebens verstärken.

Blickt man auf die Rolle der CEO’s, dann zeigt sich, dass die Geschworenenbank der Urteilenden heute viel breiter besetzt ist. Waren es zunächst vor allem die Shareholder, denen sie Rechtfertigung schuldig waren, so sind es jetzt die Mitarbeitenden und die Gesellschaft. Und deren Maßstäbe differieren doch sehr.

Der Zwang, sein Leben, sein Tun zu rechtfertigen steht sicher egoistischer Willkür entgegen. Er kann jedoch auch die spontane Lebendigkeit, das Tun aus reinem Wollen dämpfen und so auch die Phantasie als Teil innovativen Tuns verdunkeln. So ist eine Frage von Günther Anders ein schöner Anlass seine eigene Rechtfertigungslandschaft zu hinterfragen:

»Warum setzen Sie eigentlich voraus, dass ein Leben, außer da zu sein, auch noch etwas haben müsste oder auch nur könnte – eben das, was Sie Sinn nennen?«
(Günther Anders in Die Antiquiertheit des Menschen)

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Rüdiger Müngersdorff
Der Artikel erschien ursprünglich auf www.myndleap.com
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Die stete Botschaft des Mangels – Du bist nicht gut genug

Arnold Gehlen beschrieb den Menschen als Mängelwesen und gab dieser Bestimmung eine positive Wendung. Die physische Unvollkommenheit des Menschen mündet in seine Fähigkeit, sich eine Lebenswelt zu gestalten, sozusagen Dominanz und Gestaltungsfähigkeit aus dem Mangel zu entwickeln. Diesem anthropologischen Gedanken steht die psychologische Bestimmung des Mangelkonzepts in der ontogenetischen Entwicklung des Menschen entgegen mit Botschaften, die vermitteln, dass das Individuum nicht gut genug ist. Hier bleibt es oft beim Mangel, ohne dass die Wendung zur Gestaltung, zu Bewältigung und Überwindung möglich wird. Die Mangelbotschaften führen zur Aufgabe, zum Zweifel, zum Aufgeben oder aber zu einem ewigen Kampf gegen die Kraft der frühen Botschaften.

Mangelbotschaften sind Teil der gesellschaftlichen Haltungen und spielen in den Familien eine große Rolle. Wenn man in biographischen Arbeitsschritten sich mit den erinnerten typischen Sprichworten beschäftigt, die Kinder und Jugendliche von den wichtigen Bezugspersonen oft, wieder und wieder gehört haben, dann wird deutlich, wie diese Botschaften zu Haltungen und Glaubenssätzen werden. Ob es heißt: Das Leben ist kein Ponyhof oder Qualität kommt von Qual oder harmloser klingend Ohne Fleiß kein Preis usw.; immer wird vermittelt – nicht gut genug, da muss noch mehr kommen, nimm dich zusammen. Die Welt wird nicht zum Ort des Erlebens, freudvollen Gestaltens, sondern zur immerwährenden Bewährungsprobe. Dem stehen auch immer wieder die Botschaften der Kraft, der Fülle, des Bewusstseins des eigenen Potentials gegenüber. Beides ist da – oft aber stimmt die Balance nicht.

Gerne wird in den häufigen Fällen der fehlenden Balance eine formelhafte positive Vorsatzbildung empfohlen – das greift aber deutlich zu kurz, auch wenn es bei Individuen durchaus eine positive, stabilisierende Wirkung haben kann.

In der Mindsetarbeit, wie sie von MyndLeap realisiert wird, geht es um das Phänomen der Verschränkung von Kultur, kollektivem Mindset und individuellem Mindset und deren Dynamik. Eine Arbeit, sie sich nur auf das Individuum und dessen Glaubenssätze konzentriert, verändert die Verschränkung zwischen Kulturbotschaften, die wie Normen wirken und den individuellen, entsprechenden Glaubenssätzen nicht.

Im günstigsten Fall weisen die Verschränkungen Differenzen auf, die Spielräume öffnen – so etabliert sich mit einem veränderten Narrativ zur Fehlern als Teil von Innovation die Perfektionsnorm in der das Individuum in der Spannung zwischen Ich kann das und ich bin nicht gut genug Gestaltungsraum gewinnt – allerdings steht dem Narrativ, Fehler sind Teil des Lernens und Wachsens noch dominierend stark das Narrativ entgegen: Fehler sind falsch, zu vermeiden und ein geradezu moralisches Versagen. Oft haben sie ((kollektive und individuelle Glaubenssätze) eine sich symmetrisch verstärkende Beziehung – was bei Glaubenssätzen, die eher Sicherheit, Gestaltungskönnen, Mut und Freude an der Herausforderung vermitteln in der gegenseitigen Verstärkung große Kraft entfalten kann. Genau andersherum jedoch, wenn die Mangelsätze sich gegenseitig aufschaukeln.

Wenn wir auf den Ursprung der Mindsetkonzeption zurückblicken, dann wird noch einmal sichtbar, dass es vor allem um spezifische Annahmen gegenüber der Welt geht, die sozialen Systemen zu eigen sind und der konkreten Erfahrung vorausgehen. Zuerst waren die sozialen Schichten im Blickfeld, dann auch die Frage, ob es typische nationale Mentalitäten gibt. Für uns steht heute die Frage im Vordergrund, welche Bedeutung hat die Mentalität oder das dominierende kollektive Mindset für das Engagement und die Leistungsfähigkeit von Mitarbeitenden in Unternehmen. Mag die individuelle Mindsetarbeit für einzelne Individuen eine erleichternde Wirkung haben und oft auch einen Weg aus einer Situation aufweisen können, die das eigene Mangelbewusstsein stabilisiert und verstärkt, so ist es für Unternehmen wichtig, sich dem kollektivem Mindset zuzuwenden. Hier liegt der Hebel für Veränderungen. Es gibt bewährte Methoden, die es erlauben mit Gruppen aber auch grösseren Organisationen so zu arbeiteten, das im ersten Schritt wahrnehmbar ist, wie das kollektive Mindset tickt und welche normativen Botschaften es setzt, in dem dann die jeweils individuellen Glaubenssätze wirken. Wenn die Verschränkungen sichtbar werden, kann ein Prozess beginnen, in dem andere Botschaften möglich werden und durch nachhaltige, achtsame Bewusstwerdung und Integration schrittweise wirksam werden. Kulturelle Muster etablieren sich durch Wiederholung, Vorleben und Nachahmung. Die Arbeit am kollektiven Mindset, die von MyndLeap gestaltet wird, führt vom Mangel- zum Potentialbewusstsein und somit zu einer Potentialkultur, wobei jeder Mensch selbst entscheiden darf, was aus diesem Potential wird.

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Der Artikel erschien ursprünglich auf www.myndleap.com
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Mindset: Grenzen und Chancen einer Arbeitsform

Das Konzept Mindset/Glaubenssätze hat sich im Kontext von Coaching bewährt. Es unterstützt wirkungsvoll kognitive Flexibilität und ermöglicht es Coachees mit einer breiteren Handlungspalette den Herausforderungen der Lebens- und Arbeitswelt zu begegnen. Es ist gut zu sehen, dass sich viele Schulen der Mindsetarbeit von einem normativen Konzept verabschieden, wie sie unter den Begriffen Growthmindset oder Agilemindset gerne an Unternehmen verkauft wurden und ja noch werden. Unter Begriffen wie mindset plasticity oder -flexibility wird deutlich, dass es eher um die Fähigkeit geht, situativ zu handeln und nicht, wie es die Transaktionsanalyse formulieren würde aus der Gebundenheit an alte Skripte zu handeln. Es geht um Freiheitsgrade und wie seit den Anfängen der Psychoanalyse um das Credo: Bewusstheit öffnet den Raum von Möglichkeiten. Möglichkeiten auch anders reagieren und agieren zu können.

Trotz dieser dynamischen Entwicklungen in der Mindsetszene gibt es einige blinde Flecken – nicht überall, aber doch dominant findet man sie in den jeweiligen Verkaufsfoldern. Ich habe bereits in früheren Artikeln (@myndleap @rüdigermüngersdorff @synnecta) auf die Quellen von Mindset hingewiesen und dabei die viel breitere Basis dieses Ansatzes skizziert. Hier möchte ich im Folgenden auf zwei der nicht ausgeschöpften Aspekte von Mindset hinweisen.

Ich treffe immer wieder auf die Formulierung »emotional charged belief sets«. In der Fixierung auf kognitive Strukturen und Inhalte werden Emotionen, wie so oft in der westlichen Kultur, zu sekundären Erscheinungen, die etwas aufladen. In der nun doch schon langen Geschichte der Psychotherapie haben wir zumindest gelernt, dass Emotionen eigene Dynamiken sind und als solche auch wahrgenommen und angesprochen werden müssen. Alle Studien zur Wirksamkeit von Psychotherapie und von Coaching belegen, dass die Beziehung zwischen den Beteiligten der wichtigste Wirkfaktor ist. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass in der Beziehung zwischen Menschen, Emotionen spürbar und wahrnehmbar werden. Hier liegt ein großer Wert der Entdeckung der Übertragungsphänomene, die nicht nur eine Fehlwahrnehmung beschreiben, sondern den Ort bilden, an dem sich Emotionen ereignen, die dann in Kognitionen oder in Reden übersetzt werden können. In der Methodenfixiertheit der meisten Mindsetschulen wird dieser Aspekt der Arbeit dramatisch unterschätzt. In meinem im asiatischen Raum stattfindenden Projekten spreche ich daher nicht nur von Mindset sondern auch von Heartset. Das löst in diesen Kulturen große Zustimmung aus und gibt den Zugang nicht nur kognitive Flexibilität zu erhöhen, sondern auch emotionale. Der Wiederholungszwang, der einer flexiblen, angemessenen Wahrnehmung und Handlung entgegensteht, ist ja nicht vorwiegend an Erkenntnis-, Bewertungs- und Entscheidungsstrukturen gebunden, sondern vor allem an die emotionale Reaktion auf einen inneren und äußeren Kontext – auf eine Szene. Hier entstehen die Bindungen und Limitierungen, hier erhalten dann Glaubenssätze die Kraft ihrer handlungsleitenden Botschaft und wenn wir nicht in der Lage sind die szenischen Gefühle von Furcht, Scham und Schuld emotional anzusprechen (Qualitäten der Übertragung und Gegenübertragung) bleibt die Mindsetarbeit Flickschusterei.

Konfrontiert mit der kognitiven Fixiertheit und Methodengläubigkeit vieler Mindsetschulen fällt mir immer wieder die Frage ein: Wer hat dir eigentlich erzählt, dass du im Kopf denkst und nicht vielmehr in deinem ganzen Leib? Ohne Wahrnehmung der Leiblichkeit gibt es keine Wahrnehmung der Emotionalität und ohne die Erfahrung des Heartsets bleibt die Mindsetarbeit oberflächlich.

Ein anderes auffälliges Manko der Diskussion über Mindset ist ihre Blindheit gegenüber den wesentlichen Bedingungen einer wirksamen Organisationsentwicklung. Während wir in der Kulturwissenschaft einen cultural turn oder sociological turn beobachten, verstärkt sich in der weichen Beratungsszene der psychologische Ansatz. Der Satz: Ich lebe mein Leben ist genauso wahr wie der Satz: Mein Kontext lebt mich. So wie bei den gängigen Resilienzkonzepten die Veränderungslast auf das Individuum verlagert wird, so geschieht das auch in der Organisationsentwicklung. Der dahinterstehende Glaube, wenn alle Mitarbeitenden wahlweise ein growth-mindset, agile-mindset oder xxx-mindset haben, dann sind wir erfolgreich, dann ändert sich unsere Kultur und unterstützt unsere Unternehmensziele. Alle Praxis zeigt, dass dies eine Illusion ist. Alle Unternehmen haben eine spezifische Kultur, man kann dies auch ein kollektives Mind- und Heartset nennen. Sie reproduzieren diese Kultur selbst dann, wenn man Mitarbeitende austauscht. (Es ist ja eine der ernüchternden Erfahrungen, dass eine Führungskraft in einem Training anders ist, als dieselbe Führungskraft in ihrem unternehmerischen Kontext.) Während es in der individuellen Mindsetarbeit klar zu sein scheint, dass die Glaubenssätze im Gehirn lokalisiert sind – wobei ich sagen würde im Leib) so stellt sich in der Organisationsentwicklung die alte Kulturfrage, wo und wie ist die Beständigkeit von Kulturmustern in Unternehmen verortet? Auf diese Frage hin hat die Kulturwissenschaft eine Reihe von Ansätzen formuliert, die es in die Organisationsentwicklung zu integrieren gilt. Sie sind meistens relational und lassen sich mit dem klassischen Ursache- wirkungsdenken kaum erfassen. Es geht darum; dass Bedingungsgefüge, in dem Wahrnehmen, Entscheiden und Handeln geschieht wahrnehmbar zu machen. Denn auch hier ist der erste Schritt wie in der individuellen Arbeit: Bewusstheit. Mit diesen Gedanken kehrt das Mindsetkonzept zu seiner Quelle in der Mentalitätsforschung sozialer Schichten zurück und versteht, wie Mindsetarbeit kollektives Verhalten in seiner Gebundenheit zu verstehen hilft und zugleich die Chance zu Emergenz öffnet. Mit einer Formulierung Musils könnte man sagen, Arbeit am kollektiven Mindset stellt dem Wirklichkeitssinn den Möglichkeitssinn an die Seite.

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Der Artikel erschien ursprünglich auf www.myndleap.com
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