Alessandro Biamonti: ArchiFlop
Dass die Errichtung der Hamburger Elbphilharmonie wesentlich länger dauerte als geplant und die Baukosten sich am Ende monströs auftürmen, ist schon tragisch. Aber es hätte ja noch schlimmer kommen können. Man stelle sich vor, das imposante Bauwerk hätte sich nicht nur während der Bauzeit, sondern auch nach seiner Eröffnung als Fehlplanung erwiesen, würde zum Beispiel die hohen Erwartungen nicht erfüllen, könnte nicht vollumfänglich genutzt werden oder die Besucher blieben fern.
Zum Glück wird die Elbphilharmonie in diesen Tagen gefeiert. Sie wäre sonst wohl ein Fall für Alessandro Biamonti. In seinem Fotoband »ArchiFlop« präsentiert der Mailänder Architekt die spektakulärsten Ruinen der modernen Architektur. Gescheiterte Visionen heißt es im Untertitel. Riesige Geisterstädte, eine verlassene und heruntergekommene Shopping Mall, verwahrloste Vernügungsparks, Stahl- und Betonskelette auf hoher See. Biamonti hat die Objekte seines Buches aussagekräftig in folgende Rubriken unterteilt:
- Die Überlegung lautete: Es werden viele Tausende kommen.
- Die Überlegung lautete: Es wird riesige Gewinne bringen.
- Die Überlegung lautete: Sie werden es nicht bemerken.
- Die Überlegung lautete: Sie werden sich bestens amüsieren.
Die gewählten Überschriften suggerieren bereits, was falsch lief: Mal fehlte das Interesse der Kundschaft, mal das Geld. Mal machten Naturkatastrophen alle Erwartungen zunichte, mal politische Wendungen oder Irrwege. Meist fehlte es an Weitsicht, oftmals auch an Einfühlungsvermögen.
Überraschend ist, wie viele architektonische Fehlschläge sich in Asien befinden. Oder auch nicht, wenn man bedenkt, wie schnell und in welchem Umfang dort ganze Städte verrückt und hunderttausende Menschen umgesiedelt werden, weil mal eben ein neuer Staudamm gebaut werden muss oder neu entdeckte Bodenschätze zu heben sind.
Allerdings hat auch Europa eine Vielzahl spektakulärer Ruinen zu bieten. Eindrucksvolle Beispiele in Biamontis Buch sind die Metro-Linie Châtelet im belgischen Charleroi, die u.a. wegen der Krise der Stahlwirtschaft in den 1980er und 1990er Jahren nie in Betrieb genommen wurde; oder der Spreepark in Ostberlin, erster und einziger Vergnügungspark der DDR, der wenigstens ein paar Jahrzehnte in Betrieb war, dessen Aufgabe im Jahre 2001 jedoch vermutlich schon mit dem Fall der Mauer vorhersehbar war.
Faszinierend an »ArchiFlop« sind nicht nur die Fotos, die Biamonto zusammengetragen hat, sondern auch die kurz und knapp von ihm dargelegten Hintergründe des Scheiterns. Gulliver’s Kingdom zum Beispiel, ein Themenpark mit einer 45 Meter langen liegenden Statue des Lemuel Gulliver im japanischen Kamikuishiki, floppte unter anderem deshalb, weil der gewählte Standort mit seinen jahrhundertealten Bäumen eine besondere Anziehungskraft auf Suizidgefährdete ausübt – und weil sowohl der Sitz der berüchtigten Aum-Sekte als auch eine Nervengasfabrik in unmittelbarer Nachbarschaft zu finden sind. Nun ja, hätte man vielleicht vorher wissen können.
Immerhin erlangten einige der architektonischen Fehlschläge aus Biamontis Buch Berühmtheit als Filmkulisse. Die im Kaspischen Meer errichtete Öl-Stadt Neft Dashlari mit ihrem verwirrenden Brückengeflecht kennen James-Bond-Fans aus »Die Welt ist nicht genug«, die künstliche Insel Hashima war in »Skyfall« geheimnisvoller Sitz des 007-Gegenspielers.
Die Frage, die sich der Autor am Anfang und Ende seines Buches stellt – und irgendwann dazwischen auch seine Leserschaft: Kann man den architektonischen Fehlleistungen etwas Positives abgewinnen, außer dass sie hinterher als Ruine eine interessante Filmkulisse abgeben?
Biamontis Antwort lautet: Ja. Die größten Chancen, so schreibt er, tun sich häufig vor dem Hintergrund von Problemen, Fehlschlägen oder Zusammenbrüchen auf. Zum besseren Verständnis zitiert er Basketball-Superstar Michael Jordan, der einmal gesagt hat: »Gerade weil ich 9000 Würfe verfehlt habe, bin ich Michael Jordan geworden.« Soll heißen: Ohne Flops kein Erfolg.
Alessandro Biamonti: ArchiFlop
Die spektakulärsten Ruinen der modernen Architektur | Deutsch von Ulrike Stopfel
DVA 2017 | 192 Seiten
Holger Reichard