20. Juli 2015
Anlässlich unseres Seminars »Sexuelle Identitäten am Arbeitsplatz. Diversität wahrnehmen, anerkennen, nutzen« lesen wir den Roman »Vielen Dank für das Leben«. Sibylle Berg beschreibt mit Toto die Biographie eines intersexuellen Menschen, der ohne eindeutiges Geschlecht geboren wird. Oder wird dieser Mensch mit einem uneindeutigen Geschlecht geboren? Oder mit einem dritten Geschlecht? Oder schlicht und einfach mit einem Geschlecht.
Es ist ein Nichts. Sagte der Doktor.
Dieser Mensch ist ein Mensch. Und bei diesem Menschen ist alles vorhanden, ein Körper, Gedanken, Gefühle und der Wille zu leben. Ein Geschlechtsteil ebenso, jedoch ist das nicht einzuordnen in »typisch männlich« oder »typisch weiblich«, sondern erscheint in eigener besonderer Form, die nicht in das übliche binäre/heteronormative/normale Muster passt.
All das Gequatsche von Würde. Die würdevollen Menschen, ihrer Anzüge entledigt, hier auf den Boden gesetzt und dann geschaut, was da so übrig bleibt.
Die Welt ist geprägt von Vielfalt, das gilt für Geschlechter, Geschlechtsidentitäten und damit einhergehend für sexuelle Orientierungen. Intersexuelle Menschen sind Teil dieser Vielfalt, wobei Intersexualität selbst vielfältige Formen kennt und damit Zeichen biologischer Diversität ist. Menschen mit intersexuellem Geschlecht sind natürlich auch Teil von Unternehmen und Firmen, es muss zur Selbstverständlichkeit werden, sie mitzudenken.
Dieser Roman ist eine radikale Abrechnung mit den Menschen, mit dem Schlechten, der Tristesse und gedämpften Atmosphäre in deutsch-deutschen Leben, mit den abscheulichen Gesetzen der Ungerechtigkeiten.
Toto, der sang, der schrie, von einem Leid, dessen er sich nicht bewusst war, und der die Menschen, die ihn zu verspotten suchten, nicht wahrnahm. Toto schien über allem zu schweben, was die Welt zu einem widerlichen Ort machte.
»Vielen Dank für das Leben« ist eine Quelle und ein Plädoyer für die Wahrheit. Ingeborg Bachmann sagt: »Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar.«
Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben
Hanser 2012 | 400 Seiten
Hanna Göhler
5. Dezember 2013
Beantworten Sie bitte für sich eine Frage:
»Inwieweit erleben Sie den Umgang der Menschen in Ihrem Unternehmen frei von Diskriminierung, insbesondere bezogen auf die unterschiedlichen sexuellen Orientierungen der Menschen?«
In Befragungen antworten üblicherweise 85-90 % der Mitarbeiter, dass in ihrem Unternehmen die Menschen fair behandelt werden, egal welche sexuelle Orientierung sie haben. Die Zahlen sind ermutigend, zeigen sie doch, dass mittlerweile eine generelle Akzeptanz gegenüber Lesben und Schwulen zu bestehen scheint. Die Frage ist jedoch, wird diese Selbstverständlichkeit auch tatsächlich im Unternehmen gelebt?
Ich beobachte, dass auch heute noch viele Lesben und Schwule ihre sexuelle Orientierung am Arbeitsplatz nicht öffentlich machen. In zwölf Jahren Arbeit mit Gruppen, mit vielen hundert Menschen in oft personennahen Kontexten, habe ich nur einen einzigen Menschen erlebt, der von sich ganz selbstverständlich als schwul gesprochen hat. Die (nicht hetero)-sexuelle Orientierung ist weiterhin ein Tabuthema im Arbeitskontext. Es wird einfach nicht darüber geredet. Und damit wird ein wichtiger Teil der Persönlichkeit in der Begegnung am Arbeitsplatz quasi ausgeklammert. Dies steht im drastischen Widerspruch zu der häufig gehegten Erwartung, dass wir uns mit unserer ganzen Persönlichkeit in der Arbeit engagieren sollten.
Lesben und Schwulen sieht man ihre sexuelle Orientierung nicht an. In einer heterosexuell geprägten Umwelt werden sie zuerst als heterosexuell wahrgenommen, und es liegt an ihnen, ihre sexuelle Orientierung zu thematisieren. So kann man auch nicht davon sprechen, dass man irgendwann »sein Coming-out« hat. Lesben und Schwule erleben in den vielen Begegnungen im Arbeitskontext immer wieder neue Coming-out-Situationen. Für Lesben und Schwule stellen sich dann immer wieder die gleichen Fragen: »Sage ich es? Wie sage ich es? Wann ist der richtige Zeitpunkt?« Die größte Barriere, die eigene sexuelle Orientierung am Arbeitsplatz öffentlich zu machen, ist häufig die Angst, dies könne negative Auswirkungen auf haben – den Status, auf die Arbeitsbeziehungen, auf die Karriere.
Lesben und Schwule können den Menschen in ihrem Arbeitsumfeld natürlich einfach mehr Vertrauen schenken, dass diese in selbstverständlicher und akzeptierender Weise mit den vielfältigen sexuellen Orientierungen umgehen. Und sicherlich trägt dieses eigene Verhalten dazu bei, dass unterschiedliche sexuelle Orientierungen noch selbstverständlicher ihren Platz im Arbeitskontext finden. Das reicht jedoch nicht aus, um den Umgang mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen im Unternehmen offener zu gestalten. Will man diesem Thema mehr Raum im Unternehmen geben, ist es notwendig, aktiv Räume zu schaffen, in denen die Vielfalt der sexuellen Orientierung besprochen, sichtbar und erlebt werden kann.
Akzeptanz und Selbstverständlichkeit entstehen vor allem in der Begegnung. Es gilt also, Räume der Begegnung zu schaffen; es gilt, der Vielfalt sexueller Orientierung im Unternehmen ein Gesicht zu geben, sie öffentlich zu machen – in Diskussionen über Homosexualität am Arbeitsplatz, in Gruppenangeboten für Lesben und Schwule, auf Festen mit homosexuellem Motto, durch einen lesbisch-schwulen Chor oder eine Sportgruppe, über ein Forum für Lesben und Schwule in den sozialen Medien oder über regelmäßige Artikel in der Unternehmenszeitschrift. Vorbilder für erfolgreiche Integration finden sich mittlerweile an vielen Stellen unserer Gesellschaft. Natürlich sind wir auch hier noch weit von einem wirklich selbstverständlichen Umgang mit unterschiedlicher sexueller Orientierung entfernt, aber wir sind auf einem guten Weg dorthin. Dies könnte als Best Practice und Benchmark auch für Unternehmen dienen.
Andreas Lindner
Foto: Holger Reichard