Spiritualität
Erfahrungen aus intensiven Coachings – Anlass für ein paar Gedanken
Es ist eine lange Tradition des »Beraterstammes«, sich mit dem Gottesbezug auseinanderzusetzen. Hier wurden Erlösungsfragen, Gotteszweifel, das Gefühl der Sicherheit und Aufgehobenheit besprochen – ein Verhältnis zwischen Hoffnung und Zweifel – doch immer wieder ein Rückbezug, der Sicherheit und Gelassenheit gewährte. Heute jedoch müssen wir uns mit der Gottesleere beschäftigen – der Zweifel hat sich als Nicht-Erfahrung des Göttlichen manifestiert. Und in diese Leere fließen viele Inhalte hinein, die uns über diese Leere hinweghelfen sollen. Es gibt einen Boom an magischen und esoterischen Angeboten, die die Leere füllen und uns einen neuen Boden der Sicherheit gewähren sollen. Die meisten sind sehr individualistisch – keine Stammesmagie, sondern individuelle Programme zur Steigerung der persönlichen Leistungsfähigkeit und des eigenen Glücks. In vielen Fällen bringen die spirituell – magischen Praktiken spürbare Resultate – Menschen fühlen sich mehr aufgehoben, sicherer, gehalten. Leider bleibt diese Erfahrung in der rücksichtslosen Realität nicht sehr lange stabil – die individuelle Leere kehrt zurück.
Für heutige Berater ist es sicher nötig, gesprächsfähig zu sein, wenn das Thema Spiritualität in den Vordergrund rückt. Und es kann für manchen Zweifel hilfreich und lösend sein. Jedoch führt uns der individuelle Ansatz nicht weiter, er ist eine Art Reparaturbetrieb für einen wesentlich umfassenderen Zweifel. Spiritualität ist nicht nur ein individuelles Thema, sondern ein wesentliches Thema der Gemeinschaft, der ich mich zugehörig fühle. Es ist in unserer persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, die konsequent auf Individualisierung und Unterscheidung setzt, folgerichtig, die Gottesleere auch individuell überwinden zu wollen, sich zumindest individuell mit ihr auseinanderzusetzen. Das aber unterschätzt den gemeinschaftlichen Aspekt der Spiritualität. Zugehörigkeit ist einer der Aspekte, der uns Sicherheit gibt, weil sie reale Aufgehobenheit bedeutet. Damit ist das Thema Spiritualität, die Auseinandersetzung mit der Erfahrung der Gottesleere, auch ein Thema der Unternehmen.
Wir setzen uns heute unter dem Begriff Sinn, die meine Arbeit machen soll, mit diesem Thema auseinander. Und so müssen wir immer wieder die Frage stellen, warum eigentlich tun wir, was wir tun? Und die Antwort kann heute nicht heißen, weil wir Geld verdienen, verdienen müssen.
Die Antwort ist vielschichtiger – sie betrifft die Frage, warum eigentlich akzeptiert die Gesellschaft uns in unserem systemeigenen Gewinnstreben? Warum verstehen wir, was wir tun, als wertvoll und bedeutungsvoll? Wie rechtfertigen wir unser Gewinnstreben im Kontext unser aller Verantwortung für die alle umschließende Gemeinschaft der Erdenbewohner? Und wo sehen wir, dass wir etwas zur Entwicklung der Menschheit beitragen? Es reicht nicht aus, wenn wir zur Beantwortung dieser Fragen auf unsere (sehr wertvollen) sozialen Projekte verweisen. Eine reflektierte Antwort greift tiefer in die ideelle Konstitution der Unternehmen ein, denn es geht nicht um eine mit Sinnelementen angereicherte Visionsbildung. Vielmehr stellt sich die Frage: Können wir als Unternehmen, zumindest für eine Zeit, einen Ort bilden, der sinnhafte kollektive Zugehörigkeit schenkt? Und was ist die Aufgabe der begleitenden Beratung in diesem Prozess?
Ein Aspekt mag das verdeutlichen: Nehmen wir die oben genannte Aufgabe ernst, dann müssen wir uns zugleich mit dem Thema der Diversität auseinandersetzen und lernen hilfreich zu sein, wenn sich Unternehmen die Aufgabe stellen, eine sehr inklusive, respektgetragene Einladung zu einer emotional tragenden Gemeinschaft zu formulieren und zu leben – akzeptierend, dass es für manche ein lange schützendes Dach ist, für manche ein vorübergehendes – sie kommen, beteiligen sich und lösen sich. Es geht um eine Gemeinschaftsbildung, die Widersprüche und Abweichungen zu respektieren vermag und sie zugleich als Erfahrung zu nutzen weiß. Wenn wir kritisch auf die Beratungslandschaft blicken, dann ist die Diversity-Kompetenz nicht sehr ausgebildet.
Zygmund Baumann hat, lange bevor das Wort Agilität in Mode kam, von fluiden Organisationen gesprochen – fließend sind unsere Verhältnisse heute – Menschen kommen, sind ganz bei uns und dann lösen sie sich, gehen weg oder kommen zurück. Grenzen sind nicht mehr fest – wir bestimmen individuell unsere Zugehörigkeit. Was Unternehmen heute tun können, ist, einen lebendigen, attraktiven Ort zu bilden, an dem Menschen für eine Weile Heimat finden. Spiritualität, also das Gefühl in einem tieferen Sinne das Richtige zu tun und zu einer tragenden Gemeinschaft zu gehören, ist so ein wichtiges Thema in der Organisationsentwicklung – eines, das heute zu oft auf den Einzelnen und das Persönliche geschoben wird, jedoch eigentlich ein Thema der Gemeinschaft ist.
In unserer Überzeugung wird es kein gelingendes Diversitätsprogramm geben, das sich nicht zuvor mit der Frage des spirituellen Bezugs der Organisation beschäftigt hat. Erst dann kann sie auch vorübergehende Heimat für die so umworbenen High Potentials sein. Und das stellt ganz andere Anforderungen an die Qualität einer Visionsbildung, als sie heute noch vertreten werden.
Rüdiger Müngersdorff