Thomas Pynchon: Bleeding Edge
»DeepArcher, die Zentrale«, sagt Lucas mit einer ausladenden Darf-ich-vorstellen-Geste.
Ursprünglich – und man wundert sich über ihren Weitblick – hatten die Jungs vor, einen virtuellen Ort zu erschaffen, an dem man vor den zahlreichen Misslichkeiten der wirklichen Welt Zuflucht finden kann. Ein riesiges Motel für die Geplagten, ein Asyl, das mit dem virtuellen Nachtexpress von überall, wo es eine Tastatur gibt, erreicht werden kann.
Bisher wurde in Pynchon-Rezensionen immer auf seine mediale Abwesenheit und die wenigen existierenden Fotos aus den Fünfzigern hingewiesen. Anlässlich der Rezeption von »Bleeding Edge« wich dieser Punkt dem allgegenwärtigen Hinweis auf das fortgeschrittene Alter des Autors. Pynchon ist inzwischen 77 Jahre alt und trotzdem atmet sein neues Werk mehr teen spirit als alle Hipster-Debüts der Saison.
Die Verwunderung beruht wahrscheinlich auf den fundierten Kenntnisse der Computer- und Hacker-Szene, die er hier vorführt. Aber Pynchon hat schon immer gewusst, worüber er schreibt, weil er sich zuvor die Materie umfassend aneignete. Sei es die Welt der Landvermesser im 18. Jahrhundert, die Trivialliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der Zweite Weltkrieg oder die kalifornische Hippieszene der 70er und 80er Jahre. Kein Wunder also, dass er auch über die Dotcom-Gesellschaft unzählige Anspielungen und Insider-Gags einflechten kann. Aber die Scherze über Computerspiele, Law & Order, Dragonball Z usw. zeugen neben einem großartigen Sinn für Humor auch von einem tiefempfundenen Verständnis für die Inhalte. Trotz des Alters des Autors also alles andere als ein Alterswerk.
Worum geht es? Nun, wie immer um alles. Maxine Tarnow hat ihre Lizenz als Wirtschaftsprüferin verloren und arbeitet nun als Privatdetektivin in New York. Zwischen dem Platzen der Dotcomblase und den Anschlägen vom 11. September erfährt sie von den Machenschaften einer übermächtigen Computerfirma. Sie lernt DeepArcher kennen, eine sehr radikale Form von Second Life, und begegnet Legionen von skurrilen Figuren, wie sie sich wohl nur in New York tummeln können. Die Handlung ist wieder einmal Nebensache, das Genre eine Mischung aus Krimi und Stadtpanorama, und natürlich gibt es auch ein paar Songs.
Wie immer bei der Lektüre von Pynchon – jedenfalls geht es mir so – entfaltet sich die ganze Pracht des Buches erst beim zweiten Durchgang. Beim ersten Lesen gab ich nach der Hälfte auf, weil ich nichts verstand und sich alle Dialoge wie unzusammenhängendes Geplapper anhörten und anfühlten. Nach zwei Monaten wagte ich einen neuen Versuch und ließ mir mehr Zeit. Mein Fehler war klar: Ungeduld. Als hätte ich nach monatelanger Vorfreude die neueste Staffel meiner Lieblingsserie im schnellen Vorlauf angesehen und hinterher das Gefühl beklagt, die Handlung nicht verstanden zu haben.
Die zweite Lektüre war das wunderbare Leseerlebnis, das ich schon beim ersten Mal erhofft hatte. Schon nach wenigen Seiten hatte ich das Gefühl, ein völlig anderes Buch zu lesen. Ich behielt den Überblick über die Figuren, alles ergab Sinn und die verqueren Gedankengänge ließen mich mehrmals laut auflachen. Man muss konzentriert sein, denn dieser Text verzeiht gedankliche Abschweifung nicht, dazu schlägt er zu viele und zu schnelle Haken und enthält zu viele Informationen.
Ein anstrengendes Buch, das Durchhaltevermögen erfordert und belohnt. Aber wenn man sich an Pynchons Stil gewöhnt hat, ein unerschöpflicher Quell der Freude. Jedes seiner Bücher kann man immer wieder lesen und jedes Mal neue Satzperlen, Gags und Erkenntnisse finden. Möge er noch lange so weitermachen!
Thomas Pynchon: Bleeding Edge
Deutsch von Dirk van Gunsteren | Rowohlt 2014 | 602 Seiten
Andreas Zwengel