Tim Marshall: Die Macht der Geographie
Beim Lesen dieses Buches fällt vor allem eines auf: Tim Marshall ist immer dort, wo gerade etwas passiert. Er berichtet aus den Krisengebieten Balkan, Kosovo, Afghanistan, Israel und Syrien und nimmt den Leser an die Hand zu einer Weltreise der besonderen Art, die ihr Augenmerk auf die Geographie legt und auf die Frage, wie diese seit jeher die Weltpolitik beeinflusst.
Hier wird schnell klar: Die Geographie wird unterschätzt, liefert sie schließlich Erklärungen und Ansätze für sämtliche Konflikte dieser Erde.
So steht Putin beispielsweise vor dem gleichen Problem wie Peter der Große oder Stalin: Es fehlt ein Hafen, der nicht die Hälfte des Jahres zugefroren ist – schon hier entsteht eine direkte Verbindung zur Krim-Krise und der Antwort auf die Frage, warum Putin so viel an diesem Stück Land bzw. dem Zugang zum Meer gelegen ist. Mit Russland beginnt auch die Reise, darauf folgen das aufstrebende China, die Supermacht USA, Westeuropa und die EU, Afrika, der Nahe Osten, Indien und Pakistan, Korea und Japan, Lateinamerika und schlussendlich die Arktis.
Schlüssig und verständlich erläutert Tim Marshall die geographischen Gegebenheiten all dieser Regionen und die Folgen für Bevölkerung, Politik und Weltgeschehen. Welches Interesse hat China an Tibet? Warum steht Lateinamerika im Schatten der USA? Welche Rolle spielt Neokolonialismus in Afrika? All diese Fragen und noch viele weitere werden in diesem Buch beantwortet – es ist geballtes Wissen, geprägt von den langjährigen Erfahrungen und Reisen des Autors, der stets einen kritischen und differenzierten Blick behält und knapp 300 Seiten Sachbuch zum Leseabenteuer werden lässt.
»Die Welt ist eine Pulverfabrik, in der das Rauchen nicht verboten ist.« Dieses Zitat von Dürrenmatt könnte das Mantra des Buches sein, denn überall lauern Gefahren: frozen conflicts, potenzielle Konflikte, neue Formen der Kriegsführung, die Krieg zum Geschäft werden lassen, Korruption und das Gieren nach Macht. So lehrreich das Buch ist, lässt es einen doch am Guten im Menschen zweifeln und man beginnt zu hoffen, dass all die beschriebenen möglichen Zukunftsszenarien nie eintreffen mögen oder zumindest nicht, solange man noch am Leben ist.
Wenn wir uns zu den Sternen aufmachen wollen, sind die Herausforderungen, die vor uns liegen, derart, dass wir uns vielleicht zusammenschließen müssen, um sie zu meistern – und nicht als Russen, Amerikaner oder Chinesen durchs All zu reisen, sondern als Vertreter der Menschheit. Auch wenn wir uns von den Fesseln der Schwerkraft losmachen konnten, sind wir bislang immer noch Gefangene unseres eigenen Geistes, der begrenzt ist durch unser Misstrauen gegenüber dem »anderen« und unseren uralten Wettstreit um Ressourcen bedingt. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.
Es ist die Angst vor dem Fremden, die uns immer wieder in Konflikte reinreitet und das Streben nach Macht. Dies sind die beiden Hauptzutaten, die das Pulverfass beinhaltet – verfeinert mit einer gewaltigen Portion nationaler Überheblichkeit. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Menschheit in Zukunft auf eine friedliche Konfliktkultur, Toleranz und Kompromissbereitschaft setzt oder diese zumindest anstrebt.
Tim Marshall hilft zu verstehen, wie Weltpolitik funktioniert und auch wenn man sich lange nicht alles merken kann, weil jeder Satz vor Informationen trieft, so betrachtet man die Welt nach dem Lesen doch mit anderen Augen. Ein sehr empfehlenswertes Buch, das den eigenen Horizont erweitert, Politik und insbesondere ihren geographischen Einfluss verständlich macht und zum Nachdenken anregt.
Tim Marshall: Die Macht der Geographie
Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt
Deutsch von Birgit Brandau | dtv 2015 | 304 Seiten
Mariel Reichard