Wovon lassen wir, wenn wir gelassen sind? Anders herum gefragt: Was lässt uns?

In unserer von Hektik geprägten Zeit wünschen sich fast alle mehr Gelassenheit. Aber was bedeutet das überhaupt? Der Literaturwissenschaftler Thomas Strässle nimmt sich in diesem Buch dem Begriff der Gelassenheit an und verfolgt seine facettenreiche Bedeutung durch verschiedene literarische, philosophische und religiöse Texte – von seiner ersten Verwendung beim Mystiker Meister Eckart über Goethes Werther und Faust, Schopenhauer und Nietzsche bis hin zu Heidegger und unserer eigenen Zeit.

Strässle zeigt als Erstes anhand der sprachlichen Verwendungsmöglichkeiten des Wortes Gelassenheit bzw. gelassen, wie vielschichtig seine Bedeutung ist. Er stellt fest, dass man neben dem Wunsch, gelassen zu sein, vor allem gelassen auf etwas reagiert oder etwas gelassen hinnimmt und sich schließlich auch oft einfach nur gelassen gibt, ohne es wirklich zu sein. Um die Gelassenheit näher zu bestimmen, zerlegt er das Wort in seine Teile und wirft einen Blick in andere Sprachen und auf eine ganze Menge Synonyme, auch solche, die einem nicht spontan dazu einfallen, zum Beispiel Disziplin oder Besinnlichkeit, die zeigen, wie facettenreich der Begriff ist.

Bei den Überlegungen des Mystikers Meister Eckart zur Gelassenheit wird deutlich, dass man sie nicht einfach erzwingen kann, sondern das man zunächst etwas loslassen oder von etwas gelassen haben muss, um sie zu erreichen, dass man dabei aber das Ziel paradoxerweise nicht zu sehr im Blick haben darf – ähnlich wie es im Christentum nicht funktioniert, seine Besitztümer herzugeben, um in den Himmel zu kommen.

Anhand von Goethes Werther zeigt Strässle, dass Gelassenheit auch ins Negative umschlagen kann, wenn sie zu einer kaltherzigen Teilnahmslosigkeit oder zu einem wunschlosen, einer Todesstarre ähnlichen Zustand wird, in dem einem Menschen jeder Antrieb fehlt. Weiter geht es mit Schopenhauer und Überlegungen, wie eine Distanz zum eigenen Leben, als ob man nur der Zuschauer in einem Theaterstück wäre, zur Gelassenheit führen können und warum das nie ganz funktioniert. Ein kurzes Kapitel über eine Kalendergeschichte von Johann Peter Hebel stellt Gelassenheit als Strategie vor, wie man sich mit Sanftmut und scheinbarer Ergebenheit effektiv wehren kann und in der Passivität erst recht Selbstbestimmtheit und Macht über das eigene Schicksal erlangt.

Am Beispiel von Nietzsche untersucht Strässle, warum Gelassenheit meist als eine vornehme, adelige Eigenschaft betrachtet wird und was sie mit Unabhängigkeit und Selbstbeherrschung zu tun hat. Am Ende des Buches steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich Gelassenheit, Zeit und Technik zueinander verhalten: Strässle erklärt, wie Heidegger noch verlangen konnte, dass Menschen sich eine gesunde Distanz zu ihren technischen Erfindungen bewahren, während es heute oft gar keine klare Trennung mehr zwischen Technik und dem Ich gibt.

Strässle macht gleich zu Beginn des Buches klar, dass er keine weitere Anleitung liefern möchte, wie man Gelassenheit erlangen kann – schließlich gibt es dazu genug Ratgeber – sondern stattdessen den Blick dafür schärfen will, was Gelassenheit alles bedeuten und beinhalten kann. Dabei stellt er jedoch eine Menge Beispiele an Haltungen und Handlungen vor, an denen man sich orientieren kann.

Thomas Strässle: Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt
Deutsch | Hanser 2013 | 144 Seiten

Sabine Anders