Wir leben in einer Gesellschaft, in der Individualität und Diversität stetig wachsen. Damit treffen auch unterschiedlichste Identitäten, Lebensentwürfe und Wertvorstellungen aufeinander. In den urbanen Infrastrukturen erleben wir sowohl den Reichtum als auch die Konfliktanfälligkeit dieser Lage. Die Notwendigkeit, Dialog- und Verständigungsräume zu schaffen, sie lebendig zu halten und zu orchestrieren, wird kontinuierlich stärker. Wir werden zunehmend mit den Spannungen dieser Situation konfrontiert und wissen, dass es keine Rückkehr zu einer Welt gibt, in der Lebensgemeinschaften unhinterfragt in einem gemeinsamen Wertekosmos mit definierten Identitäten leben. Wir sind eine offene Gesellschaft, die auf Verständigung und damit auf einen nicht endenden Dialog angewiesen ist.

Hat das Auswirkungen auf Unternehmen und auf das, was wir Organisationsentwicklung nennen? Unternehmen sind Gemeinschaften, die den oben genannten Tendenzen, die in den urbanen Infrastrukturen deutlich sichtbar werden, ebenfalls unterliegen. Je globaler Unternehmen agieren, desto stärker erleben sie diese Dynamik. War es vor zehn Jahren noch ausreichend, in den Unternehmen einen gemeinsamen Werte- und Verhaltenskodex zu formulieren, so geht es heute darum zu gewährleisten, wie die unterschiedlichen »Identitätskonzepte« im Lebens- und Arbeitsraum Unternehmen Platz finden, und zwar so, dass gemeinsames, zielgerichtetes Handeln möglich ist.

Es sind Zweifel angebracht, ob die vorwiegend oligarchische Verfassung der Unternehmen die für diese Aufgabe geeignete Struktur bietet. Es gibt gute Gründe, weshalb die Organisationsentwicklung sich mit demokratischen Ansätzen beschäftigt, seien es auch vertikal demokratische. Paternalistische Kommunikationskonzepte, die in Wellen der Beeinflussung das richtige und gute Verhalten verkünden, gehen an der eigentlichen Frage vorbei. Diese lautet: Wie kann eine Gemeinschaft mit stetig wachsender Diversität, die sich durch eine Vielzahl von Wertorientierungen, Identitätsentwürfe und Verhaltenskodexe auszeichnet, dennoch zielgerichtet, abgestimmt und kooperativ handeln? Gut ist eine Unternehmenskultur, die Platz hat für die individuellen Eigenheiten der Unternehmensbürger und zugleich Nutzen für die Gemeinschaft stiftet. Diese Balance lässt sich nicht anweisen.

Es ist deshalb sinnvoll ein Unternehmen unter der Perspektive einer urbanen Infrastruktur zu betrachten. Diese hat Eigenheiten, die wir heute auch in den Unternehmen beobachten können. So verändert sich die Rolle einer Führungskraft – seine Anweisungsmacht besteht oft nur noch auf dem Papier. Seine Aufgabe ist zunehmend eine politische: Gemeinschaften zu bilden, ihnen Orientierung zu geben, Mehrheiten zu beschaffen. Um das zu erreichen erhöht sich der Kommunikationsaufwand um ein Vielfaches und er ist dialogpflichtig. Der Zeitaufwand für das Gespräch nimmt deutlich zu.

Eine andere Eigenheit urbaner Strukturen sind die Nischen, die Freiräume, der Raum für Ungeregeltes. Hier drückt sich die Individualität aus, hier bildet sich der Humus, auf dem Innovation und Verbesserung wachsen können. Diversität ist kein Statistikspiel, es kommt darauf an, dass Diverssein gelebt werden kann. Nur dann lassen sich auch die Vorteile einer diversen Gemeinschaft erleben.

Und schließlich: Urbane Infrastrukturen schaffen Orte der Zufälligkeiten, der nicht intendierten Begegnung. Hier geschehen Anregungen, Impulse außerhalb der Routinen. Und hier wird wesentlich Motivation gestaltet, die eben auch einen sozialen Aspekt hat und sich auf eine Zugehörigkeit bezieht.

Und blicken wir auf die sich deutlicher digitalisierende Arbeitswelt, so wird es eine Aufgabe sein, Urbanität in den digitalen Räumen zu gestalten.

Rüdiger Müngersdorff