Über Wege zur Langsamkeit
Vielfältigkeit, Unentschiedenheit und schnelle Wechsel bestimmen unsere berufliche und zunehmend auch unsere private Welt. Das zuverlässig Beständige finden wir immer weniger. Das Schlagwort VUCA (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) beschreibt diese Lage ganz gut. Es ist die Realität in der das Management globaler Unternehmen intern und extern handeln muss. Folgen sind unter anderem: das Versagen langfristiger Planungen, die Notwendigkeit, Strategien schnell anpassen zu müssen und ein zunehmender Vertrauensverlust in die Weitsicht und Entscheidungsqualität der hierarchischen Führungsorganisation.
Organisationen werden intern zu komplex, um auf die komplexen Anforderungen der Märkte und des Wettbewerbs antworten zu können. Waren es früher vor allem die vielfältigen Verknüpfungen der Matrixorganisation, der man mit Regelwerken kaum beikam, so sind es heute weitere Organisationsformen, die hinzukommen. Schnelle, mehr auf Attraktivität zielende thematische Gruppen, die mit hoher Eigensteuerung und die freier vom Regelwerk der Hierarchie operieren, bilden sich in den Organisationen.
Mit dieser Vielfältigkeit steigen Freiheitsgrade in Organisationen, zugleich aber werden die Widersprüche sichtbar. Die hierarchische Organisation mit ihrer bürokratisch orientierten Steuerung verlangt andere Einstellungen und Kommunikationsformen als eine temporäre auf thematische Attraktivität beruhende Organisationsform. Sie reiben sich. Die Widersprüchlichkeit der verschiedenen Organisationsformen lässt sich bürokratisch nicht mehr auflösen und muss so von jedem Mitarbeiter persönlich sinnvoll gestaltet werden. Sie reagieren oft mit dem Gefühl, nicht wirklich geführt zu sein – sie erleben die eigene Führung als unberechenbar oder hilflos.
Die Märkte und der Wettbewerb in ihrer globalen Vernetzung tragen zu der VUCA-Welt wesentlich bei. Beschleunigung, unterschiedlichste Anforderungen diverser Märkte, die aufkommende Definitionsmacht sozialer Medien und das Aufkommen neuer Wettbewerber mit anderen internen Spielregeln machen die Außenwelt der Unternehmen instabil. Damit geht die Planungssicherheit und die Relevanz mittel- und langfristiger Strategien verloren. Von Unternehmen werden nun neben der Geschwindigkeit auch Flexibilität und eine hohe und schnelle Anpassungsfähigkeit verlangt. Oder kurz: mehr opportunistisches Verhalten.
Unternehmen reagieren darauf mit der Entwicklung schneller, dynamischer Organisationsformen, die intern die Widersprüchlichkeit erhöhen. Mitarbeiter, die nach Sicherheit suchen, verlieren Vertrauen in ihre Führung.
Es ist wenig hilfreich, in dieser Situation mit den klassischen Mustern großer Organisationen zu reagieren: dem Finden und Formulieren neuer Regeln. Regeln sollen stabilisieren, Zuverlässigkeit herstellen und Berechenbarkeit sicherstellen. Die VUCA-Welt bedroht gerade diese Fähigkeit von Regeln, denn sie verlangt, um schnell und flexibel sein zu können, immer wieder den Bruch von Regeln.
Es scheint mir nicht sinnvoll zu sein, auf die Widersprüchlichkeit, Diversität und die Forderung nach stetigem Anderssein mit einer Perfektionierung des bürokratischen Apparats zu antworten. Es ist unbestreitbar, dass wir mit der derzeit noch unverzichtbaren hierarchischen Organisation Regelwerke brauchen. Die Frage ist daher nicht, ob wir auf Regeln verzichten können, sondern wie wir dem Impuls widerstehen können, etwas in sich Widersprüchliches durch ein komplexes Regelwerk widerspruchfrei zu machen. Das gelingt nie! Der erste Schritt zu einer Veränderung einer Organisationskultur, die in der Lage sein wird, in und mit den verschiedenen Organisationsprinzipien zu arbeiten, ist die Akzeptanz der Widersprüchlichkeit und nicht ihre Verneinung. Und was dann?
Die schwierige Antwort darauf ist Vertrauen – Vertrauen, welches ich gebe und nicht eines, das sich jemand verdient hat.
»Wenn du Menschen vertraust, dir zu helfen, tun sie das oft«, schreibt Amanda Palmer in ihrem Essay Die Kunst des Bittens. Sie tun es, ohne dass für sie ein direkter Nutzen entsteht. Sie kooperieren. Dennoch misstrauen wir oft und so installieren wir zur Sicherheit vielfältige Kontrollmechanismen. Wir alle haben Geschichten, die begründen, warum wir misstrauisch sein sollten. Aber wir sollten auch wissen, wie viele Geschichten wir kennen und erlebt haben, in denen Vertrauen geholfen hat.
Ein Vorrang von Misstrauen, wie ich ihn in Unternehmensteilen immer wieder erlebe, verlangsamt, macht bürokratisch und nimmt Spontaneität. Und dies ist dann Gift für den Erfolg, wenn es um Flexibilität, Agilität, schnelles Entscheiden und die Bereitschaft, ein Risiko zu akzeptieren, geht. Wollen wir mit der VUCA-Welt erfolgreich umgehen, dann ist die Entwicklung von Vertrauen innerhalb einer Organisation der wichtigste Baustein.
David DeSteno in The Truth about Trust formuliertes so: »Trust, then, is simply a bet, and like all bets, it contains an element of risk.«
Wenn denn Vertrauen so wichtig ist, was tun wir eigentlich, um einander mehr vertrauen zu können und um das Risiko immer wieder eingehen zu wollen? Wir tun nicht sehr viel. Wir behandeln dieses so wesentliche Thema nur peripher. Wir schaffen keine Situationen, in denen wir lernen können zu vertrauen. Darin steckt eine Anfrage an die Bildungsabteilungen, die immer noch vor allem Wissen vermitteln wollen. Sie vernachlässigen, dass »Vertrauen können« ein Akt der Gefühlsbildung ist.
Wir wissen, dass Menschen, die mit hohem Vertrauen in eine konflikthafte Situation gehen, eher mit einer guten Lösung aus ihr herausgehen. Gebildetes, intuitiv gewordenes Vertrauen lässt uns deeskalieren und nach nützlichen Lösungen suchen. Vertrauen lässt sich aufbauen und es lässt sich lernen. Ganz sicher wird es immer mal wieder enttäuscht und so wird man neben dem Vertrauen wohl auch die Fähigkeit zur Vergebung lernen müssen. Beide Chancen haben wir allerdings nur dann, wenn ich nicht darauf warte, dass der andere zuerst mein Misstrauen ausräumt. Vertrauen bekomme ich geschenkt, ich kann es nicht verdienen. Ich kann es nur bestätigen oder enttäuschen. Der Anfang aber liegt darin, grundsätzlich vertrauen zu lernen – nicht nur für mich als Person, sondern auch für uns als Unternehmen.
Die VUCA-Welt scheint uns da nicht viel Spielraum zu lassen. Vertrauen wir jedoch nicht, dann werden wir nicht flexibel, nicht schnell, nicht agil und nicht anpassungsfähig werden. Dann werden wir auf unserem Pfad zur Langsamkeit weitergehen.
Rüdiger Müngersdorff