Der Versuch, sich selbst zu verwalten, sich fortzuschreiben, der Kampf gegen die Zeit, der Kampf gegen den Tod, der sinnlose Kampf gegen die Sinnlosigkeit eines idiotischen, bewusstlosen Kosmos, und mit einem Faustkeil in der erhobenen Hand steht man da auf der Spitze des Berges, um dem herabstürzenden Asteroiden noch mal richtig die Meinung zu sagen.
Für die vermutlich wenigen Leserinnen und Leser, die die Geschichte Wolfgang Herrndorfs und seines vielgelobten Buches »Arbeit und Struktur« noch nicht kennen: Im Februar 2010 teilte man dem Schriftsteller mit, dass er aufgrund eines Hirntumors (Glioblastom) nur noch eine kurze Zeit zu leben habe. Vielleicht noch ein, zwei Jahre, vielleicht etwas mehr, vielleicht auch weniger.
Herrndorf beschloss daraufhin, die ihm bleibende Zeit zu sortieren, zu strukturieren und mit Arbeit zu füllen. Er vollendete unter anderem seine Romane »Tschick« und »Sand« und rief mit der Unterstützung von Freunden das Blog »Arbeit und Struktur« ins Leben. Es war zunächst als ein privates Mitteilungmedium geplant. Schnell wurde daraus jedoch eine öffentliche Internetpräsenz von hoher literarischer Qualität und schließlich das hier vorgestellte Buch.
Das Wissen, dass unsere Zeit auf diesem Planeten endlich ist, teilen wir alle. Und wohl so gut wie jeder von uns ist ein ums andere Mal darum bemüht, sich diesen Umstand ins eigene Bewusstsein zu rufen, indem wir uns in stillen oder besonderen Momenten an die Worte Horaz‘ erinnern: Carpe diem! Genieße den Tag! Es könnte dein letzter sein. … und danach zu leben versuchen.
Wahrscheinlich gelingt uns dies aber nur, wenn wir dem Tod direkt gegenüberstehen, ihm erfolgreich von der Schippe gesprungen sind oder ihn – wie im Falle Herrndorfs – als eine leise, aber zügig vor sich hin rieselnde Sanduhr vor Augen haben. Erst dann sind wir als Erwachsene offenbar in der Lage, unsere Präsenz auf Erden in aller Klarheit zu erfassen, das Leben zu begreifen, sowohl das Wesentliche zu erkennen als auch viele Details, für die wir – in unserem geschäftigen Alltag – zumeist den Blick verloren haben.
In seinen Tagebucheinträgen beschreibt Herrndorf eindringlich die Entwicklung seines Krankheitszustandes, seine Träume, seinen Alltag, das Leben mit seinen engsten Freunden, die Reaktionen in seinem Umfeld und wie er der verbleibenden Zeit möglichst viel abgewinnen kann. Er versucht herauszufinden, was ihm wichtig ist, er zählt auf und beschreibt, was er liebt und was ihn nervt. Das Besondere an »Arbeit und Struktur« ist nicht das Thema »Wie gehe ich mit dem nahenden Tod um?«, sondern dass ein Erzählkünstler wie Wolfgang Herrndorf darüber schreibt.
Der Inhalt seines Buches mag manchen deprimierend erscheinen, der Ton, den der Schriftsteller anschlägt, schnodderig und arrogant. Doch das Buch ist weder das eine noch das andere. Man muss Herrndorfs politische, soziale und kulturelle Ansichten und Einstellungen nicht teilen, aber er hat nach der schlimmsten aller ärztlichen Diagnosen jenen unverfälschten, unverstellten und rücksichtslosen Blick auf das Leben, den wir uns alle nur allzu oft wünschen. Dass er diesen Blick in seinem Buch mit uns teilt, ist ein Geschenk.
Wolfgang Herrndorf wählte am Ende den Freitod. Am 23. August 2013 nahm er sich am Ufer des Berliner Hohenzollenkanals mit einem Revolver das Leben, in einem der letzten Momente, in denen er noch zu eigenständigem Handeln in der Lage war.
Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur
Deutsch | Rowohlt 2013 | 448 Seiten
Holger Reichard