Um 1800 steht das britische Kriegssegelschiff HMS Surprise kurz vor dem Feindkontakt. Die Mannschaft ist unter Deck versammelt, um sich vorzubereiten. Die Luke öffnet sich und der Kapitän steigt nach unten, um seine Mannschaft auf die Seeschlacht mit dem französischen Schiff Acheron einzuschwören:

»Alle herhören! Disziplin zählt ebenso viel wie euer Mut. Die Acheron zu knacken wird hart: doppelt so viele Kanonen und doppelt so viele Männer. Und sie werden ihr Leben teuer verkaufen. Toppsgasten (Mast-Matrosen): ihr führt die Schoten tölpelhaft und ungewöhnlich. Bis das Signal für Euch ertönt, alles loszuwerfen. Damit werden wir die Fahrt aus dem Schiff nehmen. Kanoniere: ihr rennt im Eiltempo Eure Stücke (Kanonen) aus. Da die Hinterräder ab sind, könnt ihr höher zielen. Aber ohne den Rückstoß können wir nicht nachladen, das heißt für die Stückführer, die Backbordbatterie kann bloß einen Schuss abfeuern, einen einzigen! Ihr zielt auf den Großmast (der Acheron). Es kommt also auf Eure Genauigkeit an. Hauptmann Howard wird mit Soldaten von den Marsen aus mit Drehbassen- und Musketenfeuer ihr Luvdeck leerfegen. Er sorgt für das Kräftegleichgewicht, bevor wir entern. Jeder stehe seinen Mann, ob an Leine oder Kanone. Der Befehl ist kurz und flink die Hand!«

Szenenwechsel: Gleiche Epoche, gleiche Situation (nur ein paar mehr Schiffe): Eine international bunt gemischte Gruppe von Schiffen steht einer feindlichen, geschlossenen Armada gegenüber. Wie eben zuvor bereitet der Kapitän der Black Pearl die Mannschaft auf die Seeschlacht vor und ruft, die Reling erklimmend:

»Wofür ist es denn wert zu sterben? Ihr werdet mir jetzt zuhören. Hört zu! Die Bruderschaft hat sich versammelt und wartet auf uns, darauf, dass die Black Pearl sie anführt. Und was werden sie sehen? Verängstigte Kielratten an Bord eines maroden Schiffs? Nein! Nein, sie werden freie Männer sehen und Freiheit. Und der Feind wird das Feuer unserer Kanonen sehen. Er wird das Rasseln unserer Schwerter hören. Und er wird wissen, wozu wir fähig sind. Mit aller Kraft, die wir aufbringen, und im Schweiße unseres Angesichts und mit Mut in unseren Herzen. Gentlemen … hisst die Flaggen!«

»Hisst die Flaggen!«, ruft zuerst einer aus der Mannschaft, dann zwei, dann alle an Bord des Schiffes. Der Ruf breitet sich auch auf die anderen, chinesischen, indischen, französischen, afrikanischen Schiffe aus und die Fahnen werden an die Mastspitzen gezogen …

Wo im ersten Fall der Union Jack am Mast weht, werden im zweiten Beispiel die Totenkopffahnen gehisst. Die beiden Beispiele sind nicht historisch, sondern fiktiv. Sie stammen aus Blockbuster-Filmen: Der erste Kapitän ist Jack Aubrey aus dem Film Master and Commander. Der zweite ist Elisabeth, eine couragierte Frau, die im Showdown die Piraten der Karibik anführt. Auch wenn die Ansprachen historisch nie so gehalten wurden, so fassen sie doch paradigmatisch zwei gegensätzlich gelagerte Führungsphilosophien und Organisationsmodelle zusammen: Navy Command vs. Pirate Leadership.

Der Soldatenkapitän hat bereits für sich entschieden, wie der anstehende Kampf zu gewinnen ist. Als genialer Feldherr hat er einen geistreichen und bis ins letzte Detail entwickelten Plan entworfen. Seine nach Funktionen stratifizierte und hoch spezialisierte Mannschaft erhält in Fachsprache genaueste Anweisungen, was von wem wann wie zu tun ist. Der Kapitän kann davon ausgehen, dass keiner seine Order in Frage stellt und alle seinen Plan nach bestem Können umsetzen werden. Als Chef ist er der fachkompetenteste Problemlöser, alleiniger Entscheider, klarer Befehlsgeber …

Was macht im Gegensatz dazu Elisabeth? Nichts als an die Freiheit ihrer Männer zu appellieren und jeden zu vollem Einsatz aufzufordern. Sie überlässt die Entscheidung, wie der Kampf zu gewinnen ist, jedem einzelnen Mannschaftsmitglied. Sie vertraut darauf, dass in der kommenden herausfordernden Kampfsituation jeder in eigener Abstimmung mit dem anderen genau das tut, was er selbst für das Richtige hält, dass die kollektive Intelligenz des Schwarms dem militärisch kommandierten Feind überlegen ist. Elisabeths Wirksamkeit als Pirate Leader wird erst etabliert, als die ersten Follower ihr durch Zustimmung ihre Gefolgschaft zusagen. Dann jedoch breitet sich ihr Aufruf wie ein Lauffeuer aus und springt auf andere Einheiten über …

Eine auf Akzeptanz stoßende Parallele zwischen Militär und Unternehmen zu ziehen, dürfte nicht schwer sein. Zu viele in der Wirtschaft gebräuchliche Vokabeln deuten bereits auf die Vorbildfunktion des Militärs hin (man denke etwa an die Herkunft der Worte Chief Officer, Strategie, Taktik …). Schwieriger dürfte es sein, die historischen Piraten als Vorbild für erfolgreiche Führung zu positionieren. Sie werden gemeinhin als chaotisch zusammengewürfelte, unkontrollierte und unkontrollierbare Horden wahrgenommen, die gegen alle Regeln verstoßend und Gesetze brechend die Meere unsicher machten und mit Grausamkeit und Kompromisslosigkeit Handelsschiffe kaperten.

Ich möchte hier nicht die Illegalität des seeräuberischen Unterfangens legitimieren und relativieren. Ich glaube jedoch, dass Piraten bereits vor Jahrhunderten mit der oben geschilderten Führungsphilosophie ein historisches Vorbild für erfolgreiche Selbstorganisation darstellten. Der Ökonom Peter Leeson, der sich detailliert mit der ökonomischen und sozialen Organisation an Bord der Seeräuber auseinandergesetzt hat, kommt im Journal of Political Economy zu dem Schluss, dass Piraten »one-of-the-most-sophisticated-and-successful-criminal-organisation-of-history« ausgebildet hatten.

Denn Piraten agierten mitnichten in chaotischen Haufen. Sie hatten sehr wohl eine funktionierende Organisation. Diese basierte auf einigen wenigen fundamentalen Grundregeln und einem großen Anteil an Selbstorganisation. Die »Feinde der Menschheit«, wie sie von offiziellen Autoritäten betitelt wurden, waren Thomas Häusler zufolge in Wirklichkeit »wahre Freunde der Demokratie«. Wahrscheinlich wurden sie auch deshalb im Zeitalter des Absolutismus so bedingungslos verfolgt. Die Piratenbesatzung wählte ihren Kapitän – und zwar auf Zeit. Der Anführer war jederzeit absetzbar, wenn er sich etwa als autokratisch oder feige erwies. Absolute Befehlsgewalt gestand man ihm nur bei Angriffen zu. Neben dem Kapitän gab es meist noch das Führungsamt des Quartiermeisters, ansonsten meist keinerlei weitere hierarchische Stratifizierung.

Einige wenige Grundverbote sorgten für Ordnung: hart bestraft wurden etwa Gewalt gegen Mannschaftsmitglieder, Diebstahl innerhalb der Crew, Feigheit im Gefecht oder Glückspiel um Geld. Die Piratencodizes, auf die jedes Mitglied schwören musste, garantierten oft die gute Behandlung von Gefangenen oder den respektvollen Umgang mit Frauen. Sie regelten die Beuteverteilung und garantierten eine Sozialversicherung: In der flachen seeräuberischen Lohnskala erhielt der Kapitän maximal das Zweifache, der Quartiermeister maximal das Anderthalbfache des Beuteanteils jedes Mannschaftsmitglieds (man vergleiche dies mit den heutigen CEO-Gehältern, die mitunter mehr als 300 mal so hoch sind wie der Angestelltenlohn!). Wer im Kampf verletzt oder gar verstümmelt wurde, erhielt eine großzügige Entschädigung und war damit gut abgesichert. Während die Mannschaften auf den Handelsschiffen zur gleichen Zeit kurz gehalten, hart gedrillt und geschunden wurden, etablierten die Seeräuber so ein »demokratisches Gegenmodell zu den autokratischen Handelsmarinen« (so Häusler). Nicht umsonst liefen viele Marineseemänner zu den Piraten über – auch auf die Gefahr hin, als Geächtete vom Staat verfolgt zu werden.

Noch einmal: Mir geht es hier nicht darum, in Unternehmen zu Gesetzesbruch und Complianceverstoß aufzurufen! Ich möchte jedoch dazu ermuntern, aus den historischen Fakten der Piratenzeit für heute zu lernen. Denn aus meiner Perspektive werden heute – überspitzt formuliert – viele Unternehmen und Abteilungen noch immer wie Marineschiffe geführt und versenken damit jede Menge Potenzial, das über ein Pirate Leadership gehoben werden könnte (vor allem dann, wenn man sich im unsicheren Fahrwasser der VUCA-Welt befindet).

Es gibt mittlerweile die ersten Unternehmen, die sich mutig auf ein Pirate Leadership der demokratisierten Struktur, der konsequenten Selbstorganisation und der Förderung von Entscheidungsfreiheit auf allen Ebenen einlassen. Brian M. Carney und Isaac Getz nennen diese in ihrem 2009 erschienen Buch Freedom, Inc. sinniger- und provokanterweise »befreite Unternehmen«. Absolut eindrucksvoll dokumentiert Frederic Laloux in seinem erst vor kurzem veröffentlichten, bahnbrechenden Buch Reinventing Organizations (2014) auf 360 inspirierenden Seiten das realisierbare Potenzial der Selbstorganisation. Der ehemalige McKinsey Associate Partner analysiert detailliert 12 Unternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen, Ländern und Kontexten (mit bis zu 40.000 Mitarbeitern!) und dokumentiert, wie durch die Abschaffung von übermäßiger Hierarchie und Umstellung auf Selbstorganisation unglaubliche Effekte erzielt werden können.

Ein Beispiel: In der niederländischen Healthcare-Organisation Buurtzorg konnte im Altenpflegebereich durch die Umstellung auf selbstorganisierte Nursing-Teams der Pflegeaufwand pro Klient um 40% (!) reduziert werden. Würde ganz Holland dieses Modell übernehmen, schätzt Ernst & Young, so könnten pro Jahr zwei Milliarden Euro eingespart werden.

Das Argument, dass dies jenseits des NGO-Sektors nicht möglich sei, entkräftet der französische Automobilzulieferer FAVI: Während alle Mitbewerber ihre Produktion mittlerweile aufgrund des Arbeitskostenniveaus nach China verlagert haben, hält sich FAVI als einziger in Europa verbliebener Getriebegabel-Hersteller – mit einem Marktanteil von 50 Prozent. FAVIs Produktqualität wird als »legendär«, die Lieferpünktlichkeit als »mythisch« beschrieben (in den letzten 25 Jahren wurde nicht eine einzige Bestellung zu spät geliefert). FAVI erzielt im aggressiven Wettbewerb mit chinesischen Mitanbietern jährlich hohe Profitmargen, zahlt deutlich überdurchschnittliche Löhne und leidet unter keinerlei Mitarbeiter-Turnover. Diese und andere Erfolge führt Laloux auf die radikale Realisierung von Selbstorganisation im Unternehmen zurück. Bis hinunter ans Fließband steuern, managen und organisieren sich die FAVI-Mitarbeiter selbst in kleinen Teams (sog. Minifactories), ohne deklarierte Führungskraft.

Im Netz kursiert seit kurzem der Film Augenhöhe, der weitere Organisationen porträtiert, die auf Selbstbestimmung und wirkliche Partizipation Wert legen und damit erfolgreich sind. Der Sender arte zeigte im Februar und März mehrfach die wunderbare Dokumentation Mein wunderbarer Arbeitsplatz. Wie die eingangs evozierte Piratenanführerin Elisabeth appellieren die gefilmten Unternehmensführer an »freie Männer (… und Frauen) und Freiheit« im Unternehmen.

Die in den angesprochenen Filmen und Büchern porträtierten und im Geiste eines Pirate Leadership geführten Unternehmen zeigen, dass sich der Fokus auf Selbstorganisation und Entscheidungsfreiheit in barer Münze auszahlt. Darüber hinaus jedoch berichten die in den Porträts zur Wort kommenden Menschen mehrheitlich, dass sie nie mehr in anderer Art und Weise arbeiten möchten. Hier liegt wohl ein weiterer Schlüssel zu dem Potenzial, das Rüdiger Müngersdorff in seinem letzten Blogbeitrag angesprochen hat: Wenn laut Umfragen nur 20% der Mitarbeiterschaft wirklich motiviert sind – welches immense Entwicklungsfeld haben dann Unternehmen bei der Gewinnung der restlichen 80%?

Um es pathetisch zu wenden: Wer im Unternehmen einmal die Freiheit des Piratenlebens gekostet hat, der möchte nicht mehr zurück auf ein Marineschiff. Das macht sicher so mancher Führungskraft Angst. Genau hier liegt jedoch – so bin ich fest überzeugt – die große Chance für Unternehmen. Nicht umsonst wird wohl auch dem von vielen so verehrten und extrem erfolgreichen Steve Jobs das Wort in den Mund gelegt: »It’s more fun to be a pirate than to join the navy!«

Johannes Ries