Die Unterschiede zwischen einem indischen Slum oder einer brasilianischen Favela und dem Frankfurter Bankenviertel, zwischen einer diskriminierten Roma-Gruppe und einer Konzern-Abteilung, zwischen einer HartzIV-Familie und der Vorstandsetage eines DAX-Konzerns liegen auf der Hand: Armut vs. Reichtum, Machtlosigkeit vs. Macht, Unterprivilegiertheit vs. Privileg… Keine Business School und kein MBA-Studiengang werden wohl auch nur einen Gedanken daran verschwenden, wie es Menschen im Prekariat geht und wie sie mit ihrer prekären Situation umgehen. Dabei glaube ich, dass man von diesen Menschen und den Kulturen, die sie unter widrigsten Umständen etablieren, viel für die Wirtschaftswelt lernen kann. Denn Slumbewohner, Arme, Minderheiten, Außenseiter und andere Randgruppen, die tagtäglich ihr schieres Überleben meistern müssen, sind Fachleute für prekäre Situationen – und damit VUCA-Experten.
Die VUCA-Situation wird in Unternehmen meist als Ausnahmezustand wahrgenommen, dem man mit den herkömmlichen Steuerungs- und Führungsinstrumenten nicht mehr Herr werden kann. Obwohl ihr physisches Überleben gesichert ist, nehmen Menschen im Unternehmen die Situation der Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität als prekär wahr, da unser Wohlbefinden in hohem Maß an Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit gekoppelt ist.
Ich habe in einem früheren Blog-Beitrag schon einmal auf die Kulturphilosophin und Künstlerin Yana Milev hingewiesen, die an Strategien eines Emergency Designs arbeitet, um dem Ausnahmezustand Herr zu werden. Auch die Philosophin Isabell Lorey setzt sich auf ganz neue Art mit dem prekär sein als Chance auseinander. Aus einer Vielzahl von Fallstudien kennen jedoch die Sozialwissenschaften, allen voran die Ethnologie, souveräne Experten im realen Umgang mit Prekarität: Es sind die Randständigen, Marginalisierten, Herumziehenden, Ausgestoßenen und andere Gruppen – diejenigen, die stets damit rechnen müssen, dass morgen alles vorbei oder zumindest radikal anders ist.
Ich selbst durfte als Ethnologe in mehreren längeren Feldforschungsaufenthalten bei Roma/Zigeunern in Rumänien die Überlebensstrategien kennen lernen, wie man souverän mit dem permanenten Ausnahmezustand umgeht (siehe Welten Wanderer, 2007). Was ich hierbei mit am interessantesten fand, war ein komplett anderer Umgang mit der Zeit: Auch die Roma/Zigeuner-Gruppen, die ich kennen lernen durfte, lebten als marginal people who live for the moment. So untertiteln Micheal Stewart, Sophie Day und Evthymios Papataxiarichs ihren wunderbaren Sammelband Lilies of the Field (1998), der wertfrei und auf Augenhöhe die kulturellen Überlebensstrategien von ungarischen Roma, Unberührbaren in Indien, Londoner Prostituierten und anderen Gruppen in prekären Verhältnissen porträtiert. Diese leben den Ethnologen zufolge »wie die Lilien auf dem Feld« (vgl. das Bibelwort Mt 6:28), die sich keine Sorgen um das Morgen machen, sondern im (Gottes-)Vertrauen darauf, dass der nächste Tag seine Chancen zum Überleben bringen wird, souverän im Hier und Jetzt agieren.
Bereits 1966 stellte Oscar Lewis in seinen erhellenden Studien zur Kultur der Armut fest, dass sich Menschen in einer dauerhaft prekären Situation vor allem auf die Gegenwart fokussieren, ja das Planen der Zukunft über das unmittelbare Morgen hinaus sogar »verlernen«. Als ich in meinen eigenen Feldforschungen in Lehmhütten und Baracken ohne Wasser- und Stromanschluss saß und mich die Bewohner der sogenannten »Ziganien« an ihrem Leben teilhaben ließen, wurde mir klar, welcher Selbstschutz in dieser Gegenwartsfixierung liegt: Wer in tiefster Armut verhaftet ist, kann nur verrückt oder depressiv werden, wenn er an das Morgen denkt …
Nichtsdestotrotz heißt diese Gegenwartsfixierung nicht, dass marginalisierte Gruppen sich als Opfer der Zukunft willenlos ausliefern. Sie gehen nur »ungeplant« Schritt für Schritt in das Morgen – und das kann für sie große Vorteile haben. Der Erfindungsreichtum, mit dem Marginalisierte durch Bricollage, Findigkeit und Improvisation Lösungen für Probleme finden, ist bemerkenswert. Gleichzeitig fokussieren sie sich auf Kairosmomente – auf schnell entstehende und sich ergebende Chancen, die sich nutzen lassen, wenn man sie denn schnell ergreift und flexibel auf sie reagiert. Durch den Aufbau von intensiven Vertrauensbeziehungen bilden Marginalisierte engmaschige Netzwerke und Patronagesysteme, die sie im Krisenfall absichern. Auch wenn diese Gruppen mit diesem Vorgehen oft nicht ihrer Armut und ihrem Prekarität entfliehen können, so verfügen sie damit doch über erfolgreiche Coping Strategies im Angesicht des Ausnahmezustands.
Aus dem Moment heraus zu agieren wird in unserer zukunftsfixierten Gesellschaft als Mangel an Planungskompetenz wahrgenommen. Die Experten der Prekarität zeigen uns damit jedoch einen interessanten neuen Weg des VUCA-Handlings. Um in der VUCA-Situation erfolgreich zu handeln, sind in der Wirtschaftswelt die gleichen Coping Strategies hilfreich, mit denen marginalisierte und prekarisierte Gruppen im Armutskontext ihr Überleben sichern. Diese Hypothese wird von den Forschungsergebnissen von Prof. Saras Saraswathy aus den USA gestützt. Fernab von Armutsmilieus analysierte sie das Verhalten erfolgreicher Unternehmer. Interessanterweise identifizierte sie ganz ähnliche Punkte als Erfolgsfaktoren für gelungenes Unternehmertum. Genau wie marginalisierte Gruppen im Ausnahmezustand agieren erfolgreiche Entrepreneurs »aus der Gegenwart heraus« ohne zu eng konkretisierte Zielvorstellung in die volatile, unsichere, komplexe und ambiguöse Zukunft »hinein«. Dieses von Saraswathy Effektuieren genannte Handeln steht dabei im starken Widerspruch zu dem linear-kausalen und zielorientierten Denken, das wir gemeinhin als logischen und planerischen Ansatz der Zukunftsbewältigung bevorzugen.
Wie die eben vorgestellten marginalisierten Gruppen fokussieren sich auch die erfolgreichen Entrepreneurs auf vier zentrale Prinzipien des Effektuierens:
1. Mittelorientierung
Im linear-kausalen Denken setzen wir uns ein Ziel, das wir erreichen möchten, und leiten anschließend aus diesem ab, welche Mittel wir zur Zielerreichung benötigen. Im besten Fall verfügen wir über einige dieser Mittel, andere müssen wir jedoch erst generieren, um unser Ziel erreichen zu können: Wir müssen erst Informationen sammeln, Kompetenzen aufbauen, Strukturen schaffen, Kontakte etablieren … Wer im Unternehmen jemals in einen Strategieprozess involviert war, wird bestätigen können, wir stark die unternehmerische Planung diesem Vorgehen folgt.
Dies alles macht großen Sinn, wenn das eine, gesetzte Ziel langfristig stabil bleibt. In der VUCA-Situation ist es jedoch alles andere als sicher, dass das Ziel, das ich mir heute setze, morgen noch Sinn macht. Mein heutiger großer Aufwand, den ich in den zukunftsorientierten Aufbau von Mitteln investiere, kann sich morgen als sinnlos verschwendete Energie erweisen. Ein effektuierendes Vorgehen erweist sich dagegen als VUCA-resilient, da es aus dem bereits vorhandenen Potenzial der Gegenwart heraus Zukunft(soptionen) generiert.
Der Ausgangspunkt einer effektuierenden Planung ist nicht das eine Ziel, das in der Zukunft angesteuert werden soll, sondern die Mittel, die in der Gegenwart bereits vorhanden sind. Alle bereits vorhandenen Mittel zusammengenommen bilden das Potenzial, aus dem heraus mögliche Zieloptionen identifiziert werden können. Eine stärkenorientierte Sammlung des eigenen Potenzials geht von der real existierenden Fülle aus und nicht vom aus der Zukunft her gedachten Mangel. Und aus dieser Fülle heraus kann sofort begonnen werden, zu agieren.
2. Leistbarer Verlust
Das Prinzipt des leistbaren Verlusts betrifft die Finanz- und Investitionsplanung. Im linear-kausalen Denken stellen wir einen (imaginären) Businessplan auf, in welchem wir ein Bild der Ertragssituation der Zukunft errechnen. Wir setzen bestimmte Voraussetzungen, unter denen wir fähig sein werden, mit einem (minimalen) Einsatz (maximalen) Gewinn zu erzielen. Hierzu ist es oft notwendig, am Anfang zu investieren, da erst Mittel generiert werden müssen, um unser Ziel zu erreichen (siehe Punkt 1). Bei einem großen zu erwartenden Gewinn, der jedoch auch eines großen Invests bedarf, macht es Sinn, sich für den Anfang von anderen Geld zu leihen. Ist unser Businessplan gut, so können wir den ROI-Punkt genau berechnen – den Moment in der Zukunft, in dem der (angenommene) Ertrag den (angenommenen) Einsatz ausgleicht und ab dem wir Gewinn machen.
Was jedoch, wenn in der VUCA-Situation die Zukunft immer weniger kalkulierbar wird? Eine finanzielle Planung, die auf der Basis von Zukunftsannahmen große Investitionen für große Gewinne vorsieht, wird immer risikoreicher. Denn bei unsicherer Zukunft ist auch der (angenommene) Ertrag nicht gesichert. Schulden machen zusätzlich unfrei und rauben die Flexibilität, auf neue Situationen schnell zu reagieren.
In einer effekutierenden Finanz- und Investitionsplanung geht man im Gegensatz zum linear-kausalen Denken vom Spatz in der Hand aus und strebt nicht nach den Tauben auf dem Dach. Das heißt, man fokussiert sich in der Planung auf den in der Gegenwart leistbaren Verlust und nicht auf den zu erstrebenden Gewinn der Zukunft. Da VUCA-bewusst mit eingeplant wird, dass das Vorhaben auch scheitern kann, stellt man sich die Frage: Wie viel Geld kann ich mir im Moment erlauben zu verlieren, um ein Vorhaben zu realisieren? Der Invest überschreitet damit niemals die Grenze der Selbstgefährdung. Benötigt man für ein Vorhaben mehr Kapital, als einem selbst zur Verfügung steht, so begibt man sich effektuierend gedacht nicht in eine Schuldnerabhängigkeit. Vielmehr sucht man sich vertrauensvolle Partner (siehe auch Punkt 4), die bereit sind (ebenfalls ohne Selbstgefährdung) mit in den Invest zu gehen, und dafür zu gleichen Anteilen auch am Gewinn beteiligt werden. Auf diese Art und Weise werden im Effektuieren Investitionsrisiken geteilt und in der Kooperation finanzielles Überleben gesichert.
3. Nutzung von Umständen und Zufällen
Aus den gerade geschilderten zwei ersten Prinzipien dürfte sich fast von selbst erklären, wie die beiden Denkweisen mit Umständen und Zufällen umgehen. Da wir im linear-kausale Denken ein festes Ziel setzen und einen genauen Plan des Mittelaufbaus und des finanziellen Invests festlegen, müssen wir auch versuchen, die real auftretenden Umstände zu kontrollieren und Zufälle zu vermeiden. Jeder Zufall kann unser Vorhaben durchkreuzen, da er eine Planabweichung bewirken kann. Wenn sich die realen Umstände der Zukunft anders gestalten, als in unseren Annahmen, so müssen wir unseren Plan der Zielerreichung, im schlimmsten Fall sogar unser Ziel anpassen. In einem früheren Blog-Beitrag habe ich die Grundlagen dieses Denkens ausgehend von dem preußischen Feldherrntheoretiker Clausewitz bereits skizziert.
Es wird jedoch in der VUCA-Situation immer problematischer, die Umstände der Zukunft zu kontrollieren. Aufgrund von steigender Volatilität und Komplexität ist es immer wahrscheinlicher, dass uns Zufälle überraschen und wir morgen vor anderen Realitäten stehen, als heute angenommen. Es ist daher wesentlich hilfreicher, in der VUCA-Situation ein (im positiven Sinne) opportunistisches taktisches Vorgehen zu wählen, wie ich es in dem eben erwähnten Blog-Beitrag mit dem antiken chinesischen Militärstrategen Sun Tzu personifiziert habe.
Dieser beschrieb bereits vor zweieinhalb Jahrtausenden einen effektuierenden Strategieansatz, in dem der Stratege sich als offen für Zufälle erweist, da er jeweils auf der Höhe der Zeit aus dem realen Moment heraus Entscheidungen für das weitere Vorgehen trifft. Wer ausgehend von den bereits vorhandenen Mitteln nicht auf nur ein Ziel fixiert ist, sondern in einem breiteren Zielkorridor mehrere Optionen ansteuern kann, und wer gleichzeitig ohne Schuldnerbindung und Angst sich zu ruinieren flexibel reagieren kann, der ist auch (weitgehend) unabhängig von den Umständen, in denen er sich in der Zukunft befinden wird. Damit kann dann jeder Zufall als Option begriffen werden. In diesem Zusammenhang stellt eine veränderte Situation keine Krise des Plans dar, sondern immer eine Chance für das weitere Vorgehen (vgl. die doppelte Wortbedeutung im Chinesischen).
4. Vertrauensvolle Partnerschaften
Im linear-kausalen Denken fragen wir: Wen brauche ich, um mein Vorhaben zu realisieren? Wir suchen im anderen das fehlende Puzzleteil zu unserem Vorhaben. Wir wollen hierbei ganz genau definieren können, wozu wir den anderen brauchen. Im Unternehmenskontext wird genau dies in oft endlos geführten Schnittstellendiskussionen getan. Da wir »von oben« zu einem klar definierten Ziel verpflichtet wurden, haben wir »ein Recht darauf«, von anderen, am Prozess beteiligten Parteien unterstützt zu werden. Wenn wir diese Unterstützung nicht erhalten, so fordern wir sie ein – verbunden mit den oft heftigen und lähmenden Streitereien einer Silokultur.
In der VUCA-Situation wird der Umgang mit anderen zu einer der wichtigsten Kompetenzen. Ich habe daher die Interaktivität als eine der sechs Grundhaltungen eines erfolgreichen VUCA-AIKIDO vorgeschlagen. Wenn alle Pläne und Vorhaben zusammenbrechen, so ist es hilfreich, ein breites Netz vertrauensvoller Beziehungen zu haben, das einen im Notfall auffängt und trägt.
Jemand, der effektuiert, versucht nicht Schnittstellen zu definieren, sondern breite Nahtstellen zu schaffen. Er sucht nach Menschen, die er (wert-)schätzt, zu denen er feste Vertrauensbeziehungen aufbauen kann. Saraswathy hat dieses Vorgehen mit dem Bild von einer Flickendecke visualisiert: Man näht eine Decke aus fest verbundenen individuellen Einzelteilen, die gemeinsam tragfähig sind. Die zentrale Frage beim Effektuieren ist: Mit wem verstehe ich mich gut, wem vertraue ich und wer ist bereit mitzumachen? Ein Netz aus vertrauensvollen Partnerschaften ist eines der zentralen Mittel, mit denen aus der Gegenwart heraus in die Zukunft hinein effektuiert werden kann. Es potenziert das eigene Potenzial und sichert gleichzeitig in den Unwägbarkeiten der VUCA-Welt.
Im Moment zu leben ist eine kulturelle Grundstärke von Prekariatsexperten. Es dürfte klar geworden sein, welcher Vorteil im effektuierenden Handeln auch für die Wirtschaftswelt liegt: Wo das linear-kausale Denken immer eine planbare Zukunft und ein stabiles Umfeld benötigt, bietet die VUCA-Situation ein ideales Feld für das Effektuieren. Im effektuierenden Mindset gedacht stellt sich VUCA nicht als Problem, sondern als Chance dar. Ausgehend von dem, was bereits da ist, eröffnen sich ein breites Spektrum der Optionen, Möglichkeiten und Wege. Die Zukunft ist immer offen – es ist und bleibt an uns, wie wir sie aus dem Moment heraus gestalten …
Johannes Ries