Usama Al Shahmani: Im Fallen lernt die Feder fliegen

Auch ich wollte meinem Namen entfliehen. Das Erste, was ich in der Schweiz hasste, war mein Name. Immer diese Fragen. Ich wünschte mir, Julia, Sara oder Mia zu heißen, wie andere Mädchen in der Klasse. Bis heute leide ich darunter, manchmal hängt mein Name wie ein Stein an mir. Mein Name, mein Aussehen verraten meine Herkunft, auch wenn ich akzentfrei Thurgauer Dialekt spreche. Am Telefon werde ich als Schweizerin behandelt, aber sobald ich meinen Namen nenne, ändert sich das, auch bei mir selbst. (Aida in »Im Fallen lernt die Feder fliegen«)

Der irakisch-stämmige Schriftsteller Usama Al Shahmani kam 2002 als Flüchtling in die Schweiz. Ihm wurde ein regimekritisches Theaterstück zum Verhängnis. Heute schreibt der in Frauenfeld lebende Autor Romane auf Deutsch. Sein aktuelles Werk »Im Fallen lernt die Feder fliegen« ist in diesem Jahr beim Limmat Verlag Zürich erschienen und wurde mit einem Förderbeitrag des Kantons Thurgau geehrt.

Das Buch erzählt von einer Irakerin, die sich zwischen ihrer Heimat und dem Exil hin- und hergerissen fühlt. Aida verleugnet ihre Herkunft. Dies führt immer wieder zum Streit mit ihrem Schweizer Freund Daniel. Er kann vieles über sie nicht verstehen kann. Während Daniel in den Bergen die letzten vier Monate seines Zivildienstes ableistet, schreibt Aida ihre Geschichte auf und setzt sich notgedrungen mit dem auseinander, was sich so schwer erzählen lässt.

»Ich erinnere mich, dass mir Schreiben schon einmal geholfen hat …«, beginnt sie ihre Notizen.

Aidas Eltern flüchteten mit ihrer Tochter Nosche aus dem Chaos, das Saddam Husseins Herrschaft hinterlassen hat. Sie gelangen in ein Lager in der iranischen Provinz Ghom. Dort wird 1992 Aida geboren. Da die Zukunft der nun vierköpfigen Familie hier genauso aussichtslos scheint, flüchtet der Vater in die Schweiz. Er landet im Flüchtlingsheim Frauenfeld und holt seine Familie nach. Integrieren kann und will er sich jedoch nicht. Er findet keine richtige Arbeit und betrachtet das Erlernen der deutschen Sprache als Zeitverschwendung. Erst recht für die Mutter. Die Töchter müssen lernen, mit der Hilflosigkeit ihrer Eltern umzugehen. Sie lernen Deutsch in der Schule, beginnen eine Ausbildung und kommen so in ihrer neuen Heimat an.

Der Schock, den die beiden Mädchen erleiden, als der Vater »eine schöne Reise« ankündigt, ergreift auch den Leser. Noch vor den Sommerferien kehrt die Familie in ihr Dorf am Euphrat zurück. In der neuen Welt finden sich Nosche und Aida nicht zurecht. Dass Aida in Amina eine Freundin findet, wiegt die Lüge des Vaters nicht auf.

»Alles hat eine männliche Farbe, eine männliche Stimme und einen männlichen Geschmack«, beschreibt Aida die Situation. Auch der Mutter vertrauen die Schwestern nicht mehr. Nosche, inzwischen zwanzig Jahre alt, soll von den Eltern verheiratet werden. Diesen Plan akzeptiert Nosche nicht. Mit Hilfe von Beyan, einem Freund des Vaters, fliehen sie zurück in die Schweiz. Über Kairo, Istanbul, Wien und das Kreuzlinger Empfangszentrum gelangen sie wieder nach Frauenfeld.

Aida ist nun unter falschem Namen erneut Asylsuchende. Ihr Gesuch wird jedoch abgelehnt. Nosche will untertauchen. Als sie an einem Fahrradunfall stirbt, besteht der Vater auf eine Rückführung. Aida sitzt zwischen zwei Stühlen. Einerseits will sie ihre Eltern umarmen, andererseits will sie ihre Schwester nicht verraten. Sie trauert sprachlos.

Usama Al Shahmani erzählt die Geschichte absichtlich in ungeordneter Reihenfolge. So wie Aidas Gedanken hin und her springen, legen sie die innerfamiliären Brüche und widersprüchlichen Empfindlichkeiten der handelnden Personen frei. Dies geschieht mit einfühlsamer, poetischer Sprache, die das Erbarmungslose der Ereignisse abmildert. Aidas Geschichte ist spannend und berührend zugleich.

Usama Al Shahmani rückt Fragen nach der Rolle von Heimat, Herkunft und Identität in den Mittelpunkt. Wir alle haben im täglichen Miteinander und Aufeinander-Zugehen Einfluss auf die Antworten. Wie sonst können sich Kulturen einander annähern? Wie können wir Verständnis für das uns vermeintlich Fremde entwickeln?

Am Ende schreibt Aida: »Ich gehe zur Arbeit, und in der Zwischenzeit kommt Daniel zurück.« Ganz sicher wirkt sie nicht. Und doch wünscht man als Leser, dass die Liebe zwischen der jungen Flüchtlingsfrau aus dem Irak und dem Schweizer Ethnologiestudenten Bestand haben möge.

Usama Al Shahmani: Im Fallen lernt die Feder fliegen
Limmat Verlag 2020 | 240 Seiten

Renate Bojanowski

Globalismus

Die Notwendigkeit, global zu denken und zu handeln trotz der Schmerzen und Enttäuschungen in den Prozessen der multilateralen Verständigung.

Wir und Sie werden wieder nationaler. Das Grundmuster sozialer Unterscheidungen in der Differenz von »Wir« und »Die da« wird wieder schärfer. Zugleich werden unsere Probleme globaler – sie betreffen uns alle und es gibt keine Aussicht auf eine Lösung innerhalb der Teilgliederungen unserer fragilen globalen Ordnung.

Mit der Zunahme der gegenseitigen Interdependenzen, der Unberechenbarkeit von global auftretenden Ereignissen (aktuell z.B. Pandemien), der Krise eines Verhaltens zur Natur, die nationale Grenzen nicht kennt, wird die Steuerungsfähigkeit und Problemlösungskompetenz nationaler Einheiten kontinuierlich geschwächt. Akute Problemstellungen, wie der Klimawandel, das fragile Finanz- und Bankensystem, die Risiken von Technologien (z.B. Genmanipulation, Energiegewinnung) und die zunehmende, soziale Ungleichheit in der Verteilung von Gütern lassen sich nur multilateral zu Lösungen hinführen. Ein mühsamer und mit vielen Kompromissen versehener Prozess. Es haben sich inzwischen viele multinationale Gremien, Institutionen gebildet, in denen diese Themen zumindest besprochen werden können und so auf die Agenda auch der nationalen Institutionen kommen. Diesen Gremien fehlt oft die Legitimität, die bisher immer nur in der Bereitschaft der nationalen Organisationen liegt, sich an ihnen zu beteiligen und sich auch deren Entscheidung zu unterwerfen. Wir erleben gerade eine Schwächung dieser multinationalen Organisationen, was die globalen Problemlösungsprozesse deutlich verzögert.

Wenn wir auf Unternehmen blicken, dann sehen wir ähnliche Bewegungen und in manchen Aspekten wohl auch solche, die als beispielhaft gelten können. Für Unternehmen ab einer gewissen Größe gibt es zum Handeln in einem globalen Markt keine Alternative. Und das heißt, sie müssen sich mit der Interdependenz von Märkten und Kulturen auseinandersetzen, sich auf die Fragilität multilateraler Einflüsse einlassen und handlungsfähig bleiben, wenn globale Ereignisse tiefe Einschnitte in die Autonomie des Handelns verursachen. Intern müssen kultur-, nationen- und glaubensübergreifende Diskurse geführt werden, um gemeinsame Lösungen zu finden und in den Interdependenzen getragene Entscheidungen treffen zu können. Das verlangt sehr aktive und ausgedehnte Kommunikationsprozesse, deren Mantra mit »Speak Up« beschrieben werden kann. Hier gab es viele, bereits als vertikal bezeichnete demokratische Gesprächsformate, die alle auf eine Bewegung hin zu gemeinsamen Überzeugungen zielen.

Wir beobachten derzeit mit Sorge, wie sich eine Haltung ausprägt, die sich explizit gegen ein »Speak Up« entscheidet, so dass sich wieder verstärkt eine Anpassungskultur etabliert, in deren Hintergrund zunehmend Ärger und Genervtheit wächst. Dennoch zeigt die nicht nur modische Konzentration auf Haltungen der Kollaboration/Kooperation deutlich, dass in den Unternehmen das Bewusstsein für die Notwendigkeit des multiperspektivischen Diskurses wächst und man sich zunehmend von der einen, durch Prozesse und Prinzipien geleiteten »wahren« Perspektive verabschiedet hat. Natürlich ist es schwierig in den heute durch komplizierte Matrixorganisationen dominierten Organisationen zu gemeinsamen Entscheidungen zu finden. Auch wenn die westliche, postkoloniale Position immer noch dominant ist, so erweitert sich der Gesprächs- und Entscheidungsraum um lokale, regionale, funktionale Perspektiven, so dass differente Interessen, Glaubenssätze und Einstellungen zu Wort kommen. Das Tableau derjenigen, die sprechen dürfen und die gehört werden, erweitert sich deutlich.

Für Führungskräfte sind solche Prozesse häufig mit dem Gefühl des Kontrollverlustes verbunden. Sie unterschätzen, wie wichtig ihre regulierende und hier durchaus kontrollierende Rolle in der Initiierung und Begleitung solcher Abstimmungsprozesse ist. Mit den Ambivalenzen und Unsicherheiten des Kooperationsgebotes von unterschiedlichen, manchmal sehr divergenten »Spieler*innn« umzugehen und in der Führung eines Gespräches zu bleiben verlangt viel von Führungskräften: so die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, zur Stabilisierung innerer Sicherheit und zu hoher Reflexivität bezogen auf die eigenen Vorannahmen und Einstellungen. Das sollten auch die wesentlichen Faktoren einer Führungsbildung sein.

Natürlich sind in Unternehmen noch weite Wege zu gehen – und dennoch sind sie in der Bewältigung der globalen Ambivalenzen, Differenzen unseren Nationen schon ein gutes Stück voraus. Dazu hat auch die Einsicht geführt, dass das eigene Unternehmen Teil der global politischen Landschaft ist und die Gesellschaften nicht nur unter dem Aspekt »Kunde« betrachtet werden können. Mit der Anstrengung, sich der Diskussion um eine »Purpose« zu stellen, haben sich Unternehmen weit für die gesellschaftliche Verantwortung geöffnet. Mitarbeiter*innen sind hier nicht mehr nur irgendwie zu motivierende Subjekte, sondern sie repräsentieren Gesellschaften und deren Anliegen. Diesen ersten Schritten müssen weitere folgen. Ich kann nicht von »Mindset Change« sprechen, ohne die divergenten Grundeinstellungen der Mitarbeitenden wenigstens mit ins Kalkül zu ziehen, und das heißt auch, sich der Notwendigkeit zu öffnen, auch politisch Position zu beziehen.

So wie Diversität neben der kulturellen Differenz, der des Alters sowie der Genderdifferenz auch die sexuelle Differenz ins Gespräch gebracht hat und damit eine der sozialen Friedensregelungen in Unternehmen: »kein Gespräch über Sex« hat wanken lassen, so gilt das auch für die Konfliktvermeidungsstrategie des »kein Gespräch über Politik«. Jedoch, was nicht ansprechbar ist, das wirkt im Hintergrund und in der die Kultur wesentlich beeinflussenden informellen Organisation.

Unternehmen sind auf dem Weg – die Betonung von kooperativen Entscheidungsprozessen und der Etablierung der dafür geeigneten Gremien sind wichtige Schritte. Inwieweit es schon gelingt, auch gesellschaftlich stärker divergenten Positionen und kulturell sehr anderen Entscheidungsprozessen einen angemessenen Raum zu geben ist sicher diskussionswürdig. Auch die Unternehmen ringen noch mit postkolonialen Einstellungen, die ja häufig von den »Besitzverhältnissen« geprägt sind.

Teil dieser »Reise« zu sein, gibt der Führung der Gemeinschaften, die sich um einen unternehmerischen Zweck gruppieren, eine spannungsvolle Aufgabe. In alten Bildern gesprochen, für die Seite der Finanzgeber*innen und Eigentümer*innen vertreten sie die Oligarchie und zugleich sind sie Volkstribune, die die Interessen der Unternehmensgemeinschaft vertreten. Eine spannungsvolle und herausfordernde Aufgabe.

Rüdiger Müngersdorff

Resilienz – Nützliche Erfahrungen aus der Coronazeit

Ereignisse wie die Corona-Pandemie können Menschen in persönliche Krisen bringen. Bisherige Erfahrungen, Werte und Ziele werden in Frage gestellt. Desorientierung führt zu erheblicher Verunsicherung und beeinträchtigt die Bewältigung des Alltags. Wie können wir in einer Krise unsere innere Stabilität wiedergewinnen und handlungsfähig bleiben? Welche inneren und äußeren Ressourcen können uns hierbei helfen?

Jutta-Anna Schroer und Andreas Lindner reflektieren hier ihre ganz persönlichen Erfahrungen aus der Corona-Zeit zum Thema Resilienz.

 

Werden wir müde?

Die anhaltende Pandemie erzwingt, was durchaus zu Recht »social distancing« und nicht nur Körperdistanz genannt wird. Wir beschränken uns, vermeiden soziale Kontakte oder verlagern ihn auf einen Bildschirm. Die Verlagerung des Kontaktes, der Kommunikation auf einen Bildschirm, war am Anfang relativ leicht, ja, war zum Teil belebend – ein Abenteuer. Abenteuer sind jedoch auf eine kurze Zeitspanne hin limitiert. Für uns dauert es nun schon Monate und wir können ein Ende nicht absehen. Wir leben derzeit von einem in der Vergangenheit angesammelten Beziehungspotential. Das hat uns getragen und trägt uns auch jetzt noch. Wie wichtig das angesammelte Beziehungspotential ist, merkt man, wenn man Praktikanten, Neueinsteigern zuhört, die nun ohne analogen Kontakt in ein Team, eine Gruppe sich einfügen sollen und wollen – ohne die in der Vorpandemiezeit angesammelten Beziehungen findet man sich kaum ein, man fällt in ein Beziehungsloch. Ohne einen angesammelten Beziehungsschatz wird es schwer, sich zu orientieren, Fuß zu fassen, dazuzugehören.

Die nun feststellbare Müdigkeit, die sich auch in Kurzangebundenheit, Aggression zeigen kann, ist ein Indiz dafür, dass wir schon den Boden im Topf unseres Beziehungskapitals sehen. Verständlich, dass gerade junge Menschen die Isolation durchbrechen und Gemeinschaft suchen. Im Sinne einer Pandemiebekämpfung eher dumm, im Sinne der Notwendigkeit, Gemeinschaft zu erleben – und die Raves sind vor allem auch körperliche Begegnung – eher klug.

Was tun wir in Unternehmen, in Organisationen, um in diesem Spagat sinnvoll zu handeln und beide Aspekte, Distanz und Nähe, in eine lebendige Form zu bringen? Das sich nun ausbildende »New Normal« kann nicht nur Homeoffice und remote working sein. Wir brauchen die Begegnung, den eher zufälligen Kontakt, den zweckfreien Austausch. Wir werden wohl hybride Modelle entwickeln müssen. Virtuelle Meetings, in denen sich nicht nur Einzelpersonen digital zusammenschalten, sondern sich kleine Gruppen, die analog zusammen sind, mit anderen kleinen Gruppen digital treffen. Dann findet, wenn auch reduziert, Gruppendynamik statt und damit auch direkte Begegnung von Menschen und nicht nur die Begegnung von Statements.

Wir werden auch Formen brauchen, in denen sich nicht nur wohl definierte Teams um Aufgaben herum bilden, sondern wir brauchen analoge und digitale Begegnungsräume, in denen Gespräche und Kontakte in einem Zwischen der Funktionen und Aufgaben stattfinden können. Das »New Normal« muss auch die Bedeutung der informellen Beziehungswelt gestalten – wobei diese kaum designed werden kann, denn sie lebt von der emotionalen Energie der einzelnen Individuen. Aber wir können dafür Orte, Räume und auch Zeiträume schaffen. Und wenn wir dafür Masken tragen müssen – na, das ist allemal besser als in nicht allzu großer Ferne in einen leeren Beziehungstopf blicken zu müssen.

Rüdiger Müngersdorff
Foto: Mika Baumeister by unsplash.com

Kaizen? CIP? KVP? Waren das nicht Ideen aus dem letzten Jahrhundert?

In den Unternehmen begegnet man den Worten kaum noch. Sie sind Geschichte. Manches aus diesen Konzepten ist in die Produktionssysteme gewandert – im direkten Bereich waren die Vorgehensweisen der kontinuierlichen Verbesserung auch besonders erfolgreich. Im indirekten Bereich hatte es das Vorgehen immer schon schwerer. Aber selbst da, wo der Gedanke der kontinuierlichen Verbesserung in den Produktionssystemen verankert ist, geht ein wesentlicher Aspekt dieser Verbesserungsbewegung verloren. Immer mehr übernimmt eine Spezialistenbrille die Hoheit über die Verbesserungsanstrengungen – ein scheinbar objektiver, planender Blick von außen, gefüttert mit Daten und Algorithmen. Dies wird sich mit der fortschreitenden Digitalisierung und dem Einsatz von AI noch deutlich verstärken.

Verloren geht dabei das implizite Wissen der Menschen, die vor Ort arbeiten – ihre oft halbbewussten Einschätzungen, ihr praktisches Wissen. Es mag sein, dass wir, gefüttert von Daten, dieses Wissen nicht mehr benötigen – aber auch das ist zu bezweifeln. Was aber auf jeden Fall verloren geht, ist ein oft verborgener Aspekt des alten Kaizens: die Beteiligung, das Erlebnis von Selbstwirksamkeit, das Gemeinschaftserlebnis – gemeinschaftlich für das, was im eigenen Arbeitsumfeld geschieht, verantwortlich zu sein.

In der derzeitigen Umgestaltung der Arbeitsmethodik zu agilen Arbeitsformen ist der Verbesserungsgedanke im inkrementellen Vorgehen oft schon enthalten – die kleinteiligen Schrittfolgen, die Möglichkeit zu schnellen Korrekturschleifen sind gelebte Verbesserungsphilosophie. Allerdings mit einem blinden Fleck: sie sind immer zielbezogen, fokussiert. Der Charme der reifen Kaizenbewegung war es, durch die Arbeitsformen einer lebendigen Moderation und der Arbeit mit der Beziehungskraft in Gruppen einen schweifenden, offen suchenden Blick einzunehmen. Es gab eine Entlastung von der direkten Leistungsbezogenheit hin zu einer offenen Suchbewegung. In diesem Aspekt war Kaizen auch ein wesentlicher Innovationstreiber bezogen auf Arbeitsabläufe, Organisationsfragen und Unterstützungen von Prozessen durch die Möglichkeit Kultur- und Verhaltensfragen zu thematisieren.

Hinter der Kaizenidee lag stets auch ein kultureller Ansatz – es war die Beteiligungsphilosophie schlechthin. Hier konnten Planung, rationale Prozessgestaltung, der Wunsch nach Beteiligung und Selbstwirksamkeit zusammenkommen – Kaizen bildete Gemeinschaften. Ein Aspekt, der für uns wieder sehr wichtig werden könnte, wenn digitales Arbeiten und Homeoffice die impliziten, informellen Beziehungsebenen der Arbeit deutlich vermindern werden.

Rüdiger Müngersdorff
Foto: Mario Purisic by unsplash.com