Tina Uebel, Nikolaus Hansen: Die S.E.A.-Expedition

Vor 100 Jahren brach der Forscher Sir Ernest Shackleton auf, als Erster den antarktischen Kontinent zu durchqueren. Obwohl ihm das nicht gelang – sein Schiff blieb im Eis stecken, wurde zermalmt und sank – ist er ausgerechnet für diese Expedition heute immer noch weltberühmt. Hauptsächlich, weil ihm dabei das denkbar Unwahrscheinliche gelang: alle seine Männer aus dieser aussichtslosen Situation herauszumanövrieren und wieder lebend zurückzubringen.

Seit dem Untergang von Shackletons Schiff mit dem passenden Namen »Endurance« haben sich einige Abenteurer und Forscher auf die Spuren des Briten begeben, darunter auch im Winter 2015/2016 eine Reisegruppe um die Hamburger Tina Uebel und Nikolaus Hansen. Nun sind sie und ihre Mitstreiter weder die Ersten noch die Einzigen mit diesem Ansinnen gewesen und sie haben auch – anders als etwa Arved Fuchs – zu keiner Zeit einer Grenzerfahrung zuliebe versucht, die historischen Bedingungen von vor einem Jahrhundert zu imitieren. Im Gegenteil: Immer wieder betonen sie die Unterschiede im Hinblick auf Komfort, Technik und purem Übermut versus nacktem Überlebenskampf. Wozu also, fragt man sich, haben sie die trotz allem heute immer noch gefährliche Reise per Segelschiff ins Weddellmeer und zu Fuß durch Südgeorgien unternommen? Und warum sollte man ihren Bericht darüber, genannt »Die S.E.A.-Expedition«, lesen?

Angetrieben hat sie zum einen die Sehnsucht nach menschenleeren, noch möglichst wenig betretenen Orten, nach einem wenigstens vorübergehenden Ausbruch aus der Zivilisation, das Bedürfnis, der Natur näher zu sein und sich selbst näherzukommen, indem man ihren Gefahren trotzt. Zum anderen war es aber auch schiere Bewunderung für Sir Ernest Shackleton (S.E.A. steht für Sir Ernest Anniversary) und seine Crew, für ihre übermenschlichen Leistungen im ewigen Eis, Shackletons Optimismus und seine Qualitäten als Anführer.

Im Zeitalter der Wettläufe zu den Polen, in dem schon Sir Ernest mit dem Problem konfrontiert war, was er überhaupt noch als Erster vollbringen konnte, bewies er die Größe, sein Ziel aufzugeben, abzubrechen und Leben zu retten, anstatt ewigen Ruhm im Tod zu suchen. Und genau die Bewunderung ist es, die das Buch lesenswert macht – auf alle Fälle für Shackleton-Fans. Es ist eine Hommage, die berührt und ergreift, aber dank Sprachwitz nie ins Sentimentale abdriftet. Uebel und Hansen wollen ihre Reise vor allem als Ehrerbietung gegenüber ihrem historischen Vorbild verstanden wissen: »Ist man endgültig tot«, fragt Tina Uebel, »wenn 100 Jahre später noch Hamburger Heiopeis über einen edwardianischen Briten derart obsessieren, dass sie als Talisman sein Familienmotto um den Hals tragen? Es ist ja schon bemerkenswert, wie der Boss seine Kameraden dazu brachte, an sich zu glauben und ihren antarktischen Obsessionen zu folgen. Wie man den Stunt auch noch 93 Jahre nach seinem Tod bringen kann, ist frappierend.«

Die Sprache, mit der die Autoren ihre Erlebnisse schildern, steckt mit ihrer Begeisterung an – für Shackleton, für die überwältigende Landschaft, für die Mitreisenden, die teilweise Bergsteiger ohne Segelerfahrung sind. Es wird nachvollziehbar, was für eine Persönlichkeit Shackleton war und wieso seine Männer ihm so gerne folgten, dass sie, noch während sie in Lebensgefahr schwebten, zustimmten, bei seiner nächsten Expedition wieder mit von der Partie zu sein. Man versteht im Lauf der Lektüre, warum Tina Uebel sich ein Foto von Shackleton auf den Schreibtisch gestellt hat: »Sicher aber bin ich mir«, erklärt sie, »dass Shackleton mich nicht halb so faszinieren würde, hätte er nicht diese tragikomische Lebensunfähigkeit in der zivilisierten, bürgerlichen Welt an den Tag gelegt.«

Das Buch stellt eine Nähe zu Shackleton her, die nicht auf den Parallelen des Erlebten basiert – obwohl die Autoren hier amüsante Gemeinsamkeiten, etwa in der Geldbeschaffung, feststellen – sondern auf Ähnlichkeit in der Motivation, Sehnsucht nach dem Unbekannten und einem Gefühl der Begeisterung.

Und so ist das Buch eine gelungene Meditation über Fragen wie: Was zählt in der heutigen Zeit noch als Heldentat? Was macht Freiheit und Verantwortung übernehmen aus? Passt der Mensch besser in die Zivilisation oder die Wildnis? Wie genießt man den Augenblick? Warum wird etwas irrelevant, sobald man es erreicht hat? Welche Umstände bringen das Beste im Menschen hervor anstatt das Schlechteste? Schließlich hätte eine Unternehmung wie Shackletons mit anderen Teilnehmern leicht auch in Kannibalismus statt in Heldentaten enden können.

Tina Uebel, Nikolaus Hansen: Die S.E.A.-Expedition. Eine antarktische Reise auf Shackletons Spuren
Malik 2016 | 352 Seiten

Sabine Anders

Franziska Walther: Werther reloaded

Dem ehemaligen Gymnasiasten ist Johann Wolfgang Goethes Briefroman »Die Leiden des jungen Werther« sicherlich noch als ungewollte Pflichtlektüre bekannt. Dass die Geschichte über Liebe und Verzweiflung zeitlos und jederzeit wieder aufgreifbar ist, bewies Ulrich Plenzdorf bereits mit seiner Adaption Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Hier liebt und leidet der halbwüchsige Edgar Wiebeau in der jugendlichen Umgangssprache der DDR.

Die in Weimar geborene freie Graphikdesignerin und Illustratorin Franziska Walther hat sich erneut mit dem Werther-Thema auseinandergesetzt. Dies geschieht in Form einer Graphic Novel. Doch das ist nicht die einzige Besonderheit ihres 2016 im Kunstanstifter-Verlag erschienenen Buches »Werther reloaded«. Die Illustratorin erzählt die tragische Geschichte nicht nach, sondern nutzt sie als Hommage.

Und so kommen die Geschehnisse in 2016 an: Werther hat sich in einen hippen Art-Director verwandelt und seinen Wohnsitz nach New York verlegt. Süchtig nach Genuss empfindet er sein Leben als sinnlos, feiert Partys und vergnügt sich bei One-Night-Stands. Der Werther von heute wird zerrieben von seinen immer wiederkehrenden quälenden Gedanken und Handlungen. Wie er sich gerade fühlt, kann man in sozialen Netzwerken verfolgen. Über all dem wacht, einem Helikopter gleich, seine Mutter. Merkt er das überhaupt noch?

Franziska Walther beginnt ihre Episode zeitgemäß und bedient sich dabei einer ganzen Palette von Klischees. Hier fragt sich der Leser noch nach dem Zusammenhang zwischen den farbenfrohen, zum Teil symbolhaften, Tempo suggerierenden Bildern und Goethes Briefen. Nach einem Zusammenbruch erholt sich Werther in der Natur. Hier wird der Leser zum ersten Mal mit Auszügen aus Goethes Briefen konfrontiert. Bilder mit entsprechenden »Likes« und »Hashtags« stellen den Bezug zu den sozialen Netzwerken her.

Während einer Party verliebt sich Werther in Lotte. Da diese genau wie in der Vorlage jedoch mit Albert liiert ist, gerät der inzwischen nach New York zurück gekehrte Werther in eine tiefe Depression und trägt sich mit Suizidgedanken. Wie der Art Direktor Werther seinen Konflikt löst, weicht von Goethes Original ab. Der moderne Leidende findet einen Weg … wenn auch ohne Lotte.

Auch wenn in Franziska Walthers Zeichnungen die Farbe Aubergine den dunklen Ton angibt, strahlen sie Wärme aus. Den dunkelsten Moment hält sie ganz kurz. Der Betrachter geht auf Entdeckungsreise, entschlüsselt die Symbole und erfreut sich an den beinahe naiv anmutenden Ideen. Und das auf jeder Seite neu.

Franziska Walthers Bildgeschichte erweckt die Lust, Goethes Briefe neu zu entdecken. Der Originaltext vom Maestro im Anhang macht’s möglich. Besonders einladend: das zart rosa Papier. Die beiden farblich abgestimmten Lesebändchen laden gar zum Hin- und Herblättern ein und sind das I-Tüpfelchen eines ganz feinen Buches, von der Idee über die Gestaltung bis hin zur Papierauswahl. Das ist gewiss auch der Grund, weswegen es auf der Shortlist der schönsten Bücher Deutschlands 2016 der Stiftung Buchkunst stand.

Franziska Walther: Werther reloaded
Kunstanstifter Verlag 2016 | 224 Seiten

Renate Bojanowski

Anders wirtschaften – Buchpräsentation am 10. Januar 2017 in Berlin

Urban Gardening im Unternehmen
Die dynamisch vernetzte Organisation: Wie Communities jenseits des Organigramms Potenziale freisetzen und Wandel ermöglichen

von Jörg Müngersdorff und Rüdiger Müngersdorff

Unternehmen nutzen ihre Potenziale nicht – in seltener Einhelligkeit gelangen Wirtschaftsforschungsinstitute zu übereinstimmenden Analyseergebnissen, die lediglich in den Prozentangaben schwanken. Die Ursachen der unzureichenden Potenzialausschöpfung werden entweder im Führungsverhalten, in der Struktur des jeweiligen Unternehmens oder aber in den Prozessen gefunden. Natürlich tragen alle Faktoren zu der Situation bei – wobei Korrekturen an einer einzelnen Stelle in der Regel nicht viel bewirken.

In unseren Ausführungen wollen wir nicht in den Wettkampf um die beste Nahtstelle der Intervention einsteigen, sondern eine Arbeitsweise vorstellen, die jenseits eines Organigramms die Beziehungen in einem Unternehmen auslotet. Unternehmen bestehen aus Beziehungen, aus Relationen. Neben der vertikalen Organisation gibt es eine lebendige und oft ungenutzte laterale Organisationsrealität. Diese zu erkennen und mit ihr zu arbeiten, kann statt starrer Strukturen Dynamik in der Organisation auslösen. Wir wollen zeigen, dass in dynamischen Organisationen das vorhandene Potenzial mehr und besser genutzt wird und dass ein Weg zur dynamischen Organisation ein neues Verständnis von Gemeinschaftlichkeit ist.

Fragt man Unternehmen danach, wie sie organisiert sind, erhält man in aller Regel ein Organigramm. Dieses spricht von Funktionen, Verantwortungen, von Hierarchie, es zeigt Berichtswege und Kommunikationskanäle. Letztere beschreiben die Kommunikationskaskade, die in den meisten Unternehmen das Rückgrat der internen Kommunikation ist. Manchmal werden die Organigramme auch um Verantwortungscharts ergänzt. Offen bleibt, was in dem weißen Raum zwischen den Kästen eigentlich geschieht. Hier in den Zwischenräumen sehen wir ein großes Potenzial zur Entwicklung einer Organisation.

Im ersten Teil unserer Ausführungen im Buch Anders wirtschaften: Integrale Impulse für eine plurale Ökonomie, herausgegeben von Jens Hollmann und Katharina Daniels, beschreiben wir auf Basis typischer Problemstellen in Unternehmen die klassischen Hemmnisse für die Dynamisierung einer Organisation. Im zweiten Teil betrachten wir die soziale Realität des Unternehmens aus einem noch sehr ungewohnten Blickwinkel. In dieser Perspektive werden grundsätzliche menschliche Eigenschaften wie Kontaktbedürfnis, Beziehungswunsch, Hilfsbereitschaft, Neugier und Interesse sichtbar und können zugunsten der Dynamisierung des Unternehmens genutzt werden. Dies bedeutet, dass Verantwortung in einem tieferen Maße wahrgenommen wird als bisher, also auch die Beziehungen zwischen den Kästen des Organigramms wirksam werden, und dass Wissen sowie Informationen schneller fließen.


 

Der Text wurde entnommen aus dem Buch
»Anders wirtschaften. Integrale Impulse für eine plurale Ökonomie«
Herausgegeben von Jens Hollmann und Katharina Daniels
Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012, 2017
Weitere Informationen und Bestellmöglichkeit unter www.anders-wirtschaften.eu

Buchpräsentation am 10. Januar 2017 in Berlin
bei der Mercator Stiftung am Hackeschen Markt
ProjektZentrum Berlin der Stiftung Mercator, Neue Promenade 6, 10178 Berlin

Das 21. Jahrhundert erlebt eine Welt im Umbruch – ökonomisch, ökologisch, sozial. Die Forderung nach einer »großen Transformation« prägt die aktuelle gesellschaftliche Debatte. Sie stellt in besonderem Maße Anpassungsherausforderungen an Organisationen und deren Führung. Dennoch sind die Debatten über gesellschaftliche Transformation auf der einen und von Organisationen und Führung im Aufbruch auf der anderen Seite kaum miteinander verbunden. Das Buch »Anders wirtschaften« baut Brücken und verknüpft diese Perspektiven miteinander. Es verbindet die Arbeit von Think Tanks der gesellschaftlichen Transformation, wie dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie, mit den Konzepten führender Begleiterinnen und Begleiter moderner Organisations- und Führungsprozesse.

Am Abend des 10. Januar 2017 diskutieren Katharina Daniels, Jens Hollmann und Uwe Schneidewind darüber, wie eng gesellschaftliche, organisationale und individuelle Transformationsprozesse miteinander verwoben sind und wechselseitig voneinander profitieren können. Die Buchpräsentation übernehmen:

  • Prof. Dr. Uwe Schneidewind, Mitautor, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt Energie
  • Jens Hollmann, Herausgeber und Autor, Berater für Organisations- und Führungskräfteentwicklung in Transformationsphasen
  • Katharina Daniels, Herausgeberin und Autorin, Kommunikations- und PR-Beraterin
  • Moderator: Douglas F. Williamson (Collective Leadership Institute)

Anmeldungen zur Buchpräsentation am Dienstag, 10. 1.2017, 18 Uhr richten Sie bitte an:

Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
Sekretariat Büro Berlin, ProjektZentrum Berlin der Stiftung Mercator
Neue Promenade 6, 10178 Berlin
E-Mail: kristina.wagner@wupperinst.org

 

Maja Storch, Wolfgang Tschacher: Embodied Communication – Kommunikation beginnt im Körper, nicht im Kopf

Warum verlieben sich alle jungen SchauspierInnen in ihre PartnerInnen, wenn sie verliebt SPIELEN? Was hat eine Pizza mit Kommunikation zu tun? Was der Belag der Pizza mit meinem Innenleben?

Auf diese und viele andere Fragen finden Sie Antworten in diesem Buch der Psychologen und Kommunikationsforscher Maja Storch und Wolfgang Tschacher. Die beiden Autoren stellen in ihrem »Manifest der Embodied Communication« drei Thesen auf:

These 1: Es gibt keine Botschaft
Die grundlegenden Definitionen von Kommunikation gehen davon aus, dass es bei Kommunikation um die Übertragung einer Botschaft oder Information geht. Die Autoren halten diese Vorstellung einer fixen Botschaft für ein Trugbild – es ist eine technische Metapher, z. B. aus der Zeit des Morsens. Sie postulieren, dass es in Kommunikationssituationen um Beziehungen und Interaktionen zwischen Menschen geht, in deren Verlauf erst die »Botschaft« entsteht.

These 2: Es gibt keine Richtung der Kommunikation
Die Autoren distanzieren sich von dem nachrichtentechnischen Bild, das bei Kommunikation eine Information von A nach B geht, vom Sender zum Empfänger gesandt wird. Kommunikation ist ein offenes System, in dem sich viele Elemente wechselseitig und zirkulär beeinflussen. Wer sendet, empfängt zugleich auch – wer empfängt, sendet zugleich auch – eben embodied communication. Embodied Communication bedeutet Kommunikation auf Basis des synchronisierten Embodiment der beteiligten Personen.

These 3: Kommunikation kennt keine Kontrolle
Die Geschichte der Kommunikation ist voll von Versuchen, Kommunikation präzise zu kontrollieren. In aller Regel vergeblich. Da nach Ansicht der Autoren in komplexen Systemen Musterbildungsprozesse stattfinden, die nicht zu kontrollieren sind, da sie selbstorganisierend entstehen. Die gute Nachricht: Ich kann über die Gestaltung von Randbedingungen auf Kommunikation Einfluss nehmen.

Storch und Tschacher geben in ihrem Buch auch wunderbare Empfehlungen, wie wir mit negativen Affekten umgehen können, die in Gesprächssituationen auftauchen (hier kommt die Pizza zum Einsatz),
und was ich tun kann, wenn ich jemandem in der Kommunikation etwas wirklich Gutes tun will – das AAO-Geschenk!

So ist Embodied Communication ein informatives, unterhaltsam geschriebenes Buch über die Keimzelle unseres Miteinanders: die Kommunikation.

Neugierig geworden?

Maja Storch, Wolfgang Tschacher:
Embodied Communication: Kommunikation beginnt im Körper, nicht im Kopf

Hogrefe Verlag 2015 | 192 Seiten

Martina Eckrich-Thalheimer

David Mitchell: The Thousand Autumns of Jacob de Zoet

Für mehr als 200 Jahre lang schottete Japan sich fast komplett vom Rest der Welt ab: Kein Ausländer durfte das Land betreten, kein Japaner ausreisen. Der einzige Kontakt zur Außenwelt war damals (von den 1630er-Jahren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts) eine Insel vor Nagasaki, auf der sich Angehörige der niederländischen Ostindien-Kompanie aufhalten durften, um mit Japan Handel zu treiben. Diese Insel, Dejima, war künstlich aufgeschüttet und sehr klein. Die ansässigen Nicht-Japaner hielten sich oft über mehrere Jahre dort auf, ohne die Insel jemals verlassen zu dürfen, und zwei Kulturen, die völlig unterschiedlich ticken, prallten auf engstem Raum aufeinander: ein perfektes Setting also mit reichlich Konfliktpotenzial für einen historischen Roman.

Es ist sein fünfter Roman, erschienen 2010 (deutsch 2014), den David Mitchell um 1800 in Dejima spielen lässt. Schon der Titel »The Thousand Autumns of Jacob de Zoet« klingt besonders – auch wenn man weiß, dass die Japaner ihr Königreich »Land der Tausend Herbste« nannten – und dieses Buch ist auch ein besonderes Leseerlebnis.

Jacob de Zoet kommt als junger Kaufmann aus Holland nach Dejima. Er hat zwei Aufträge: Er soll die Buchhaltung der letzten Jahre für die niederländische Ostindien-Kompanie in Ordnung bringen. Und er soll genügend Geld machen, um Anna, seine in den Niederlanden zurückgebliebene Angebetete, heiraten zu können.

Für den hauptsächlich rechtschaffenen und integeren Jacob erweist sich Dejima als ein Wespennest. Der Handel zwischen Japan und der Ostindien-Kompanie funktioniert nur noch durch Korruption, sowohl auf Seiten der Japaner als auch der Holländer, und die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind bereits sehr gespannt. Jacob stellt schnell fest, dass er sich mit seinem bedingungslosen Streben nach Wahrheit keine Freunde macht – nicht einmal bei seinem Vorgesetzten, von dem er den Auftrag hatte, die Bücher zu korrigieren. Diese Geschichte allein hätte wahrscheinlich für einen interessanten Gewissenskonflikt gereicht, zumal Jacob als überzeugter Christ, aber auch als jemand, der den Sitten und der Kultur eines fremden Landes mit Respekt begegnet, einen Psalter nach Japan schmuggelt, obwohl dort zu jener Zeit jegliche christliche Praktiken streng verboten sind – es könnte ihm sogar die Todesstrafe dafür drohen.

Was Jacob bald viel mehr belastet, ist jedoch, dass er sich in eine junge Japanerin verliebt, die Hebamme und Medizinstudentin Orito Aibagawa. Sie hat die Sondererlaubnis, unter dem ebenfalls auf Dejima ansässigen Arzt Dr. Marinus zu studieren, weil sie das Baby eines hochrangigen Machthabers in Nagasaki – und die Mutter – bei der Geburt durch ihr Wissen und Geschick vor dem Tod rettete. Natürlich ist eine Beziehung zwischen Orito und Jacob völlig undenkbar, aber bevor es dazu kommen könnte, verschwindet Orito sowieso: Sie wird gegen ihren Willen von ihrer Stiefmutter verkauft und in ein Kloster verschleppt, um das sich alle möglichen Gerüchte ranken und das ein schreckliches Geheimnis birgt. Klingt märchenhaft, und der Leser bekommt hier auch alles geboten: Ehre, Anstand und Loyalität im Kampf gegen Gier, Wahnsinn und Verrat, eine Entführung, öffentliche und mafia-artige Hinrichtungen, Samurai, die ein Kloster überfallen, eine streng geheime Schriftrolle, hinter der alle her sind, sinistere sexuelle Praktiken und im Zentrum von allem ein grausames Verbrechen. Für die zahlreichen unerwarteten Wendungen hat Ron Charles in seiner Rezension in der »Washington Post« den treffenden Begriff »thrillus interruptus« gefunden.

Es ist eine ungewöhnlich konventionelle Geschichte für einen Mitchell-Roman und auch der Erzählstil ist überraschend linear. Die meisten seiner Bücher sind gekennzeichnet von einem Spiel mit Intertextualität, auch zwischen seinen eigenen Werken, von der Vermischung von Realität und Fiktion und Sprüngen zwischen Genres, weshalb einige Leser von »The Thousand Autumns of Jacob de Zoet« enttäuscht und verwirrt waren. Trotzdem ist diese Geschichte packend zu lesen. Sie ist virtuos geschrieben: So einige Sätze klingen wie aus einem Gedicht. Die Sprache rückt auch dadurch in den Mittelpunkt, dass Jacob Japanisch lernt, obwohl es Ausländern strengstens untersagt ist, und die Übersetzer auf beiden Seiten den Lauf der Handlung entscheidend beeinflussen.

Durch Mitchells meisterhaften Schreibstil entsteht vor den Augen der Leser eine Welt, die lebendiger und plastischer kaum sein könnte. Er fängt das Gefühlsleben seiner Figuren ein, indem er immer wieder die Zeit verlangsamt, fast anhält, und detailreich wiedergibt, was sich in Sekundenbruchteilen in den Köpfen abspielt – einige Passagen erinnern fast an James Joyce. Selbst für die Handlung unwichtige Nebenfiguren erhalten so ein reiches Innenleben und berührende Schicksale.

Bei der Frage, ob Mitchell die historischen Figuren, insbesondere ihre Sprechweise, nun authentisch darstellt oder nicht, sind sich die Rezensenten nicht einig. In einem Essay über historische Romane, den Mitchell im Erscheinungsjahr des Romans, 2010, im »Daily Telegraph« veröffentlichte und der als Anhang in der englischen Taschenbuchausgabe enthalten ist, erklärt der Autor dazu, dass das Problem mit einer allzu historisch korrekten Wiedergabe der Sprechweise sei, dass sie keiner lesen will, weil das in Anstrengung ausarten und paradoxerweise erst recht künstlich-falsch klingen könnte. Dazu ist es vielleicht interessant zu wissen, dass Mitchell acht Jahre als Englischlehrer in Japan gelebt hat und heute mit einer Japanerin verheiratet ist, mit der er mittlerweile in Irland lebt.

So oder so ist »The Thousand Autumns of Jacob de Zoet« absolut empfehlenswert, sowohl als historischer Roman als auch für Leser mit hohen Ansprüchen an zeitgenössische Literatur.

Originalausgabe:
David Mitchell: The Thousand Autumns of Jacob de Zoet
Hodder and Stoughton 2011 | 560 Seiten

Deutschsprachige Ausgabe:
David Mitchell: Die Tausend Herbste des Jacob de Zoet
Deutsch von Volker Oldenburg
Rowohlt 2014 | 720 Seiten

Sabine Anders

Ngũgĩ wa Thiong’o: Herr der Krähen

Ngũgĩ wa Thiong’o, geboren 1938 in Kenia und einer der vielen Anwärter auf den Literaturnobelpreis, erlebte als Jugendlicher noch den Kampf seines Landes für die Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft Großbritanniens mit, unter dem seine Familie stark litt. Später, Ende der 70er-Jahre, wurde Thiong’o selbst wegen seiner schriftstellerischen Tätigkeit verhaftet und gefoltert, obwohl Kenia da längst unabhängig war. Einige seiner Werke schrieb er auf Toilettenpapier im Gefängnis. Er kennt also despotische Regimes sozusagen von innen und aus erster Hand.

In seinem 2006 im Original erschienenen Roman »Herr der Krähen«, den er in seiner Muttersprache schrieb, schildert er ein solches Regime in einem fiktiven, Aburĩria genannten afrikanischen Staat. Zwar spitzt er dabei die Mechanismen, die in so einer Regierung am Werk sind, sehr satirisch zu, aber dadurch destilliert er sie auch in einer Weise, sodass das, was übrig bleibt, unheimlich echt wirkt und solche Systeme in letzter Konsequenz offenlegt.

Da ist etwa das Gebaren der Minister des aburĩrischen Alleinherrschers, die sich stets gegenseitig darin überbieten, sich bei ihm einzuschmeicheln, und dadurch einen Wettkampf erzeugen, in dem alle Regeln der Vernunft außer Kraft gesetzt sind. Als also jemand die Idee aufbringt, in Aburĩria das höchste Gebäude der Welt zu bauen – so hoch, dass es bis ins Weltall führt und der Herrscher sich mit Gott treffen kann –, traut sich keiner, darauf hinzuweisen, wie absurd und unrealistisch das Projekt ist, weil er dadurch Zweifel an der Größe des Herrschers äußern würde. Abgesehen davon geht es den Ministern in ihrem Machtkampf längst nicht mehr um den Staat, geschweige denn die Bevölkerung, sondern nur noch um persönliche Bereicherung.

Die Hoffnungsträger in dieser Politsatire sind der arbeitslose MBA-Absolvent Kamĩti und die politische Aktivistin Nyawĩra, zwischen denen sich eine Liebesgeschichte entspinnt. Durch Zufall wird Kamĩti von einem Tag auf den anderen für einen mächtigen, gefährlichen Zauberer, den Herrn der Krähen, gehalten, den selbst der Herrscher und seine Minister fürchten, auch wenn sie es nicht zugeben. So gelingt es Kamĩti und Nyawĩra, das »Marching to Heaven«-Projekt gewaltig durcheinanderzubringen.

Durch die Versuche des Herrschers, Gelder für das Projekt von der »Global Bank« in New York zu bekommen, zeigt Thiong’o eindrücklich, wie sehr die frühere Herrschaft der europäischen Kolonialmächte heute in vielen afrikanischen Ländern lediglich durch eine indirektere Herrschaft des internationalen Kapitals ersetzt wurde. Durch die Figur Nyawĩras und ihren Einsatz für die Rechte der Frauen in Afrika macht Thiongo klar, dass mehr soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit nur möglich ist, wenn auch Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern herrscht und Frauen Zugang zu Bildung haben.

Insgesamt ist der Roman etwas lang – knapp 950 Seiten – und auch nicht frei von Wiederholungen, was oft darauf zurückgeführt wird, dass der Roman in der Tradition afrikanischer mündlicher Erzählweisen steht. Er ist aber trotzdem überwiegend spannend, unterhaltsam und berührend zu lesen und frei von jeder Bitterkeit oder Anklage, als wäre der Autor darüber längst hinaus.

Im Nachwort schreibt Thiong’o, der seit den 80er-Jahren im Exil und heute in den USA lebt, dass seine Schilderung der Diktatur in Aburĩria zu einem großen Teil auf Erfahrungen zurückgehe, die er in den 1980er-Jahren in London im Kampf um die Befreiung politischer Gefangener in Kenia gemacht habe. Die Mechanismen, die er beschreibt, dürften aber nicht nur in allen Diktaturen, die es auf der Welt gibt und je gegeben hat, am Werk sein, sondern einige davon auch in demokratischen Staaten.

Ngũgĩ wa Thiong’o: Herr der Krähen
Deutsch von Thomas Brückner
Fischer Taschenbuch 2013 | 944 Seiten

Sabine Anders