VUCA-AIKIDO: Sechs Grundhaltungen für eine neue Souveränität im Unternehmen (VUCA-Handling V)

Wenn du angegriffen wirst,
schließe deinen Gegner ins Herz.

(Ueshiba Morihei, Begründer des Aikido)

In den vorhergehenden Beiträgen der Serie »VUCA-Handling« habe ich (nach einer Skizze, was unter VUCA zu verstehen ist) konkrete Alternativen bezüglich Strategieansatz, Organisationsform und Teamarbeit vorgestellt. In diesem Beitrag möchte ich in einer Art Zwischenresümee zur Diskussion stellen, mit welchen prinzipiellen Grundhaltungen man sich in der VUCA-Situation Resilienz und neue Souveränität aufbauen kann.

Grundsätzlich möchte ich dazu vorausschicken, dass das VUCA-Konzept unter keinen Umständen als Entschuldigung für eine »selbst verschuldete« Situation missbraucht werden sollte. Jede Führungskraft und jede(r) Mitarbeitende sollte sich reflektiert mit der Frage auseinandersetzen, wo ihr/sein aktiver Part an der VUCA-ness der Situation besteht. Anschließend kann man sich die Frage stellen, wo und wie man Volatilität in Stabilität, Unsicherheit in Sicherheit, Komplexität in Einfachheit und Ambiguität in Eindeutigkeit (zurück) transformieren kann.

In vielen Fällen gibt es jedoch Bereiche des (Arbeits-)Lebens, in denen VUCA nicht (re-)transformiert werden kann. Um hier handlungsfähig zu bleiben, bedarf es einer integrierenden Antwort auf VUCA: Wenn ich die Situation nicht aktiv gestaltend verändern kann, so kann ich sie dennoch »umarmen«. Mit dieser Haltung ist es möglich, dem Opferstatus in der VUCA-Situation zu entkommen.

In einem meiner ersten Beiträge in diesem Blog habe ich mit Referenz auf den italienischen Philosophen Giorgio Agamben die Situation von Unternehmen als »Ausnahmezustand« reflektiert – dessen Charakteristika decken sich eins zu eins mit der als VUCA beschriebenen Situation. In dem gleichen Beitrag wurde bereits die Künstlerin und Kulturphilosophin Yana Milev vorgestellt, die mit ihrem »Emergency Design« in Spontaneität, situativem Handeln und Kreativität die vielversprechendsten Antworten auf den Ausnahmezustand erblickt. Unter anderem plädiert sie dafür, ein Emergency Design nach Aikido-Prinzipien aufzubauen. Milevs Idee für den sozio-politischen Kontext möchte ich aufgreifen und für den wirtschaftlichen VUCA-Kontext in Dienst nehmen. Wie könnte eine erfolgreiche Aikido-Reaktion im Unternehmen aussehen?

Wie oben bereits aufgeführt: Unsere bewährten Reaktionsansätze auf Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität zielen auf die Wiederherstellung von Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit ab. Immer öfter erweist sich diese »Kampfstrategie« jedoch als unbrauchbar. Im Gegensatz dazu versucht ein VUCA-AIKIDO nicht, den alten Zustand wieder herzustellen, sondern zielt auf eine fließende, balancierte Harmonie (AI) zwischen Energie (KI) und Weg (DO) ab. Der Japaner Ueshiba Morihei entwickelte Anfang des 20. Jahrhunderts das Aikido als betont defensive Kampfkunst. Ihr generelles Ziel ist nicht der Sieg über den Gegner, sondern die Abwehr und Sicherung ohne offensiven Angriff. Dabei versucht ein Aikido-Kämpfer, die Kraft des gegnerischen Angriffs im ersten Schritt abzuleiten, um nicht getroffen zu werden. Im zweiten Schritt wird dieselbe Kraft dann umgeleitet und gegen den Gegner selbst geführt: Dieser wird quasi mit seiner eigenen Kraft vorübergehend kampfunfähig gemacht. Analog dazu geht es im VUCA-AIKIDO darum, sich selbst so zu positionieren, dass man von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität nicht mehr getroffen werden kann. Zusätzlich ist der Blick darauf zu werfen, wie die vier auf den ersten Blick destruktiv wirkenden VUCA-Attribute zum eigenen positiven Effekt genutzt werden können.

Ohne weiter ins Detail zu gehen, möchte ich folgende sechs Grundhaltungen als Fokuspunkte eines VUCA-AIKIDO vorschlagen:

Agilität: Ich begreife mich in meiner Selbstwirksamkeit und strebe nach größtmöglicher Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Ich bin aktiv, wach, leicht, schnell, wendig, reaktiv, anpassungsfähig und in Bewegung. Ich verfüge über Puffer, die mich jedoch nicht behindern. Ich bin sinnvoll risikobereit.

Inspiration & Intuition: Ich bin begeistert: intellektuell angeregt, motiviert, stimuliert. Ich schenke anderen und mir selbst Vertrauen. Ich traue meiner Erfahrung, agiere pragmatisch, kann improvisieren. Gleichzeitig bin ich offen für neue Ideen und Experimente. Ich wertschätze Fehler als Chancen zu lernen.

Klarheit: Ich weiß um den Sinn, den ich mit meinem Tun stifte. Ich bin mir meiner Werte bewusst, an denen ich mein Handeln ausrichte. Ich kenne (meine) Grenzen. Ich verstehe meine Rollen. In all dem bin ich für mich und andere transparent. Ich entscheide zügig und setze Entscheidungen konsequent um.

Inter-Aktivität: Ich gebe ohne sofort nehmen zu müssen. Ich lade kontinuierlich zum Dialog ein. Ich bin in guter Verbindung mit vielen anderen Menschen. Ich nutze meine Einflussmöglichkeiten und bin mir der Einflüsse auf mich bewusst. Ich nutze die Schwarmintelligenz und Viralität meines Netzwerks.

Diversität: Ich wertschätze und fördere die mich umgebende Vielfalt. Ich bin offen für andere Perspektiven und kann sie empathisch nachvollziehen. Ich begreife mich selbst in meiner Mannigfaltigkeit und kann in unterschiedlichen Rollen agieren. Ich mache einen Unterschied.

Organizismus: Ich begreife mich als aktiven Teil eines (sozialen) Ökosystems und habe das stabile Ungleichgewicht des Ganzen im Blick. Ich agiere synergieorientiert. Ich lerne kontinuierlich. Ich ziehe das Werden dem Sein vor. Ich wertschätze das Jetzt im Fluss. Ich liebe und ehre das Leben!

Mit diesen sechs Grundhaltungen eines VUCA-AIKIDO kann man im Unternehmen eine grundsätzliche VUCA-Resilienz aufbauen und unter veränderten (bzw. sich ständig verändernden) Vorzeichen weiterhin souverän agieren!

Mir ist bewusst, dass diese Prinzipien in zusammengefasster Form abstrakt klingen und für den Unternehmenskontext noch mehr konkretisiert werden müssen. Dem aufmerksamen Leser dieses Blogs wird jedoch so manche Grundhaltung bereits in konkreterer Form in einem Beitrag begegnet sein. Auch die kommenden Kurztexte werden im Rückgriff auf Philosophie, Sozial- und Kulturwissenschaften möglichst konkrete Vorschläge erarbeiten, wie ein VUCA-AIKIDO im Unternehmen in der Praxis realisiert werden kann.

Johannes Ries

Viele als Viele: Das Potenzial der multitude für Unternehmen (VUCA-Handling IV)

Die in diesem Blog bereits aus strategischer und organisationaler Perspektive beleuchtete VUCA-ness der Wirtschaftswelt beeinflusst auch die Formen der Teamzusammenarbeit im Unternehmen.

Aufgrund der hohen Komplexität in globalisierten Organisationen brechen die für das effektive Zusammenarbeiten notwendigen Einheiten immer weiter auf. Die Kolleginnen und Kollegen sind weltweit verstreut und für den Einzelnen vor Ort nicht mehr greifbar – man begegnet ihnen allenfalls virtuell. Auch vor Ort herrscht ein reges Kommen und Gehen bzw. An- und Abreisen. Durch das Taumeln aller zwischen dicht getakteten Terminen in überfüllten Kalendern erhöht sich sogar in lokal ansässigen Teams zunehmend die Volatilität.

Für meine Beraterkolleginnen und -kollegen und mich wird dieser Trend vor allem in Workshops spürbar – zum Beispiel in folgender Situation: Es ist kaum mehr möglich, alle Teilnehmenden für mehr als einen halben Tag gemeinsam in einem Raum zu halten. Einige kommen verspätet, da sie so stark durchgetaktet sind, dass eine kleine Irritation wie ein Stau oder ein verspäteter Zug ihren gesamten Tagesablauf zusammenbrechen lässt. Andere sind allein körperlich anwesend – ihr Geist befindet sich in der Tiefschlafphase, da ihre Heimatzeitzone mindestens einen Kontinent weiter westlich oder östlich liegt. Ständig verlassen Einzelne spontan den Raum, um einen wichtigen Telefonanruf anzunehmen. Andere haben sich bereits im vorhinein entschuldigt, die Veranstaltung »kurz« für eine Videokonferenz verlassen zu müssen. In jeder Pause werden die Laptops aufgeklappt und Emails beantwortet. Gegen Ende des Workshops brechen die ersten bereits vor der Verabschiedung auf, da sie ihren Flug erwischen müssen. Dem allen versucht nur der Workshop-Sponsor durch ein Pochen auf Disziplin oder das Hochhalten von Handy-Regeln entgegenzutreten. Oder aber er entscheidet sich zur Unterdrückung der aufsteigenden Aggressionsschübe und nimmt die Situation hin … Die Volatilität der Teilnehmenden ist in diesem Beispiel eine zentrale Herausforderung, mit der die Moderation zu kämpfen hat.

Es gibt eine hohe Dichte an Beratungsliteratur, wie man Teamarbeit in Meetings regelt, effizient und effektiv gestaltet. Meine Hypothese lautet jedoch: Die Volatilität der Teilnehmenden wird (wie auch die Komplexität der Organisation) trotzdem eher zu- als abnehmen. Zunehmende Disziplinierung wird die VUCA-Herausforderung der Teamarbeit nicht lösen, sondern wahrscheinlich eher verstärken. Ich möchte in diesem Beitrag einer anderen Spur folgen: Vielleicht lässt sich mit der Vergemeinschaftungsform der multitude unabhängig von Einheitlichkeit und Geschlossenheit ein erfolgreicheres Zusammenarbeiten in der VUCA-Situation realisieren.

Ich möchte dazu zunächst um fast 350 Jahre zurückspringen: Um 1670 publiziert der niederländische Optiker und Philosoph Baruch de Spinoza seine Gedanken über Ethik und politische Führung. Mit seinen Ideen zur Gedankenfreiheit und seiner historisch-kritischen Bibelanalyse macht er sich unbeliebt bei den etablierten Autoritäten. Unter anderem stößt sein Konzept der multitudo (lat: große Anzahl, Menge, Vielzahl) als wesentliche Trägerin der zivilen Freiheit nicht gerade auf breite Zustimmung. Als multitudo bezeichnet Spinoza eine Vielheit von Menschen, die niemals in der Einheit aufgeht. Dem Philosophen zufolge können sich Menschen zusammenschließen und gemeinsam handeln, ohne ihre Unterschiedlichkeit aufzugeben. Sie können in ihrer Vielfalt bestehen bleiben, ohne Zentrum oder Hierarchie aufbauen zu müssen. Durch affektive Hinwendung Einzelner zu gemeinsamen Themen und in der Immanenz der Situation kann eine multitudo handlungsfähig bleiben, ohne klar festgelegt und definiert zu sein. Spinoza ist dabei überzeugt, dass der Mensch (durch Rationalität befreit) grundsätzlich tolerant und selbstverständlich wohltätig agiert.

Etwa zeitgleich entwirft Thomas Hobbes, englischer Mathematiker, Staatstheoretiker und ebenfalls Philosoph, mit seinem Programm des aufgeklärten Absolutismus das exakte Gegenprogramm: Für ihn ist Spinozas multitudo mit allen Mitteln zu bekämpfen, da sie die Einheit des Staates gefährdet. Hobbes’ Gegenbegriff ist der des Volkes, das in einem gemeinsamen Willen geeint ist und mit einer gemeinsamen Haltung konzertiert agiert. Geschlossen bezieht sich das Volk auf eine gemeinsame Essenz und muss dem gleichen Ziel zustreben. Da der Mensch im Urzustand seinen Mitmenschen ein Wolf ist, muss er sich vor seiner eigenen Schlechtigkeit und der Boshaftigkeit der anderen schützen. Als Bürger schließt er sich daher mit allen anderen Mitbürgern zusammen und unterwirft sich aus Selbstschutz dem staatlichen Souverän. In einem großen Gesellschaftsvertrag wird dem Souverän – der über allen anderen steht – Entscheidungsgewalt und Richtspruch übertragen.

Mit Hobbes und Spinoza befinden sich damit bereits im 17. Jahrhundert zwei Diskurse des Zusammenlebens, -wirkens und damit auch -arbeitens im Widerstreit: homogene, transzendental fokussierte Einheit versus heterogene, immanent-situativ agierende Vielfalt. Die Zwischenfrage, ob Unternehmen heute eher nach Hobbes’ oder Spinozas Modell organisiert sind, dürfte sich von selbst beantworten. Nicht umsonst hatte auch der Streit damals einen eindeutigen Sieger: Die Politik gab Hobbes recht und Spinoza wurde als nicht ernst zu nehmend aus den Diskursen verbannt.

Seit kurzem bekommt sein Konzept in anglizierter Form jedoch wieder neuen Rückenwind –auch wenn es derzeit weiterhin allein in randständigen Gefilden rezipiert wird. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Hardt und die beiden italienischen Philosophen Antonio Negri und Paolo Virno sehen in der multitude eine wirksame Organisationsform im Ausnahmezustand unseres Wirtschaftssystems. Die mitunter recht radikal denkenden Kapitalismuskritiker definieren die multitude schlicht als »Singularitäten, die gemeinsam handeln«, als ein heterogenes Feld von Menschen, die nicht mit sich identisch sind, als »Viele als Viele«. Mit der multitude sehen Hardt, Negri und Virno die Möglichkeit einer souveränen Selbstorganisation, die in voller Diversität im allumfassenden Druck der Arbeits- und Wirtschaftswelt bestehen kann.

Hardt, Negri und Virno hatten mit ihren Ideen großen Einfluss auf die Occupy-Bewegung, die in den Jahren 2011 und 2012 ausgehend vom New Yorker Zuccotti (bzw. Liberty Plaza) Park für Monate Politik und Finanzwelt auf Trab hielt. Einer der größten Irritationspunkte für viele Politiker und Journalisten war die konstante Weigerung der Bewegung, sich ein Programm zu geben oder dauerhafte Führer oder Sprecher zu benennen. Occupy wurde mangelnde Zielrichtung vorgeworfen, jedoch behielt sich die Bewegung mit diesem Vorgehen ihren Charakter als multitude: sie verhinderte kontinuierlich ihre eigene Stabilisierung, erlaubte keinen eindeutigen Kontaktpunkt und feierte konsequent ihre Vielstimmigkeit. Was (extern) als VUCA erlebt wurde, war (intern) Motor und Energiespender für die sozial-politische Bewegung. Wie ein großer, globaler Flashmob agierte Occupy aus der Situation heraus mit der Energie derer, die sich freiwillig mit anderen für den Moment zusammenschlossen, um den eigenen, individuellen Zielen und Botschaften Ausdruck zu verleihen. Aus der immanenten Vielstimmigkeit heraus konnten Anstöße in den verschiedensten Feldern von Kunst, Kultur, Gesellschaft und nicht zuletzt auch Wirtschaft und Politik gegeben werden, ohne dabei auf ein, zwei Kernbotschaften reduziert zu werden.

Ich möchte hier weder für die Besetzung von Unternehmen plädieren, noch die Occupy-Bewegung für den Kapitalismus missbrauchen. Ich glaube jedoch, dass eine multitude-Orientierung in Unternehmen beides ermöglicht: Die von VUCA-ness torpedierte Zusammenarbeit im Unternehmen kann mit ihr effektiver und damit (wirtschaftlich) erfolgreicher gestaltet werden; gleichzeitig ermöglicht sie dem Menschen im Unternehmen ein souveräneres Agieren in (durch VUCA) zunehmend inhumaner erlebten Arbeitsbedingungen.

Wie könnte nun die multitude als Form der Zusammenarbeit im Unternehmen wirken? Die grundsätzliche Frage, die aus meiner Perspektive in diesem Zusammenhang zu stellen ist, lautet: Zwinge ich die Vielen in ihrer individuellen Situation in mein einheitliches Format der Zusammenarbeit? Oder gestalte ich das Format der Zusammenarbeit so, dass es die Vielen optimal mit ihrer individuellen Situation ausfüllen können? Bloße Anwesenheit von Menschen garantiert keinen Arbeitserfolg. Pflichtveranstaltungen sind meist wenig produktiv. Doch je mehr sich Mitarbeitende in einem freiwilligen Kontext befinden, desto höher sind Motivation, Engagement und die Qualität der Arbeitsergebnisse.

Seit einiger Zeit versuche ich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen sowie in Abstimmung mit experimentierfreudigen Kundenunternehmen Veranstaltungen so zu designen, dass die Teilnehmenden in ihr als multitude agieren können. Dazu greifen wir unter anderem auf bereits etablierte Formate wie Harris Owens Open Space oder neue Ideen aus der Stadtentwicklung zurück. Natürlich wird das jeweilige Design jeweils eng auf das Thema abgestimmt. Die am Bild der multitude orientierte Grundidee ist jedoch immer, die Teilnehmenden nicht mehr als Einheit zu begreifen, die in allen Punkten gemeinsam agiert, sondern Diversität hinsichtlich Persönlichkeiten und der Teilnahme an der Veranstaltung zuzulassen. Alle Verpflichtung wird auf ein Minimum zurückgefahren (reduzierte Push-Faktoren), dafür wird versucht, die Veranstaltung für Teilnehmende so attraktiv wie möglich zu machen (erhöhte Pull-Faktoren). Die Veranstaltung wird im Sinne einer Plattform konzipiert, an welche die Teilnehmenden andocken können. Die Moderation versucht, nur einen minimalen Rahmen vorzugeben, innerhalb dessen sich die Teilnehmenden selbst organisieren können und müssen. Volles Vertrauen wird auf die Emergenz gesetzt: auf die spontane Herausbildung neuer Qualitäten durch das Zusammenspiel einzelner Menschen.

Ein konkretes Beispiel soll zeigen, wie eine solche multitude-orientierte Zusammenarbeit dann aussehen kann: Im Zuge eines umfassenderen Organisationsentwicklungsprojekts war es nötig, das bisherige Konzept mit der internen Projektgruppe abzustimmen, deren Mitglieder aus verschiedenen Unternehmensfunktionen stammten. Gewöhnlich wäre dafür ein Workshop angesetzt worden, in welchem sich die Projektgruppe volle zwei Tage geschlossen abgestimmt hätte. Im Gegensatz dazu entschied sich die SYNNECTA-Projektgruppe (Marc C. Berger, Anja Kulik, Dr. Andreas Lindner, Thomas Meilinger, Michael Stiegler und ich) für ein alternatives multitude-Konzept: An zentraler Stelle wurde ein sogenanntes Open Office eingerichtet, in welchem der Status des Konzepts über Poster und andere Medien visualisiert ausgestellt war. Die Projektgruppenmitglieder wurden eingeladen, innerhalb der zwei Tagen zu einem ihnen angenehmen Zeitpunkt ins Open Office zu kommen, um ihre Perspektive auf das Konzept einzubringen. Kontinuierlich waren nur der interne Projektleiter und zwei Berater als Open Office-Team anwesend. Tatsächlich kamen alle Projektgruppenmitglieder innerhalb der zwei Tage und diskutierten engagiert und fokussiert den Projektstand. Dadurch, dass manche mehrmals kurz, andere nur einmal (dafür länger), wieder andere einen ganzen Tag blieben, fand die Diskussion in ständig neuen Konstellationen statt. In »Leerzeiten« arbeitete das Open Office-Team die Diskussionen auf, fokussierte das Erlebte und diskutierte das weitere Vorgehen mit den nächsten Teilnehmenden. Der Output dieses Open Office-Workshops stand dem eines konventionellen Workshops qualitativ in nichts nach. Gleichzeitig konnte jedoch auf Kundenseite eine Effizienzsteigerung erreicht werden: Die einzelnen Teilnehmenden waren zu jedem Zeitpunkt im Open Office konzentriert, da sie für sich selbst den richtigen Zeitpunkt für die Tätigkeit ausgewählt hatten. Gleichzeitig sparten sie Zeit und Kapazitäten ein, damit natürlich aus unternehmerischer Sicht Geld.

Mit einem solchen Format steigen jedoch enorm die Anforderungen an die Moderierenden: Gefordert sind als Reaktion auf die Volatilität ein hochgradig flexibles Reagieren auf die Situation und die jeweils gegenwärtige Zusammensetzung der Teilnehmenden. Um mit der Unvorhersagbarkeit des Verlaufs umgehen zu können, muss mit fuzzy visions gearbeitet und eine hohe Prozessoffenheit ausgehalten werden. Die Moderierenden müssen die sich ständig verändernde, komplexe Interaktion von bereits Agierenden und neu Hinzukommenden im Blick haben. Hierzu müssen sie noch mehr als früher fähig sein, empathisch, intuitiv und analytisch die Situation einschätzen und schnell entscheidend mit Interventionen reagieren zu können. Gleichzeitig sind eine erhöhte Methodenkompetenz und ein differenzierter Tool-Baukasten erforderlich. Die richtige Balance zwischen selbstbewusst Anziehen und vertrauend Loslassen, zwischen Herausfordern und Unterstützen muss gefunden und gehalten werden – dann ergibt sich der richtige, attraktiv wirkende Flow, in welchem die multitude ihr Potenzial der Vielen als Viele entfalten kann.

Mit diesem Beitrag fordere ich nicht, alle Teams im Unternehmen aufzulösen und die konventionelle Zusammenarbeit der Planung, Verbindlichkeit und Gemeinsamkeit aufzugeben! Nicht für alle Aufgaben oder Herausforderungen ist die multitude die adäquate Form der Zusammenarbeit. Gleichzeitig plädiere ich jedoch dafür, mit einem Fokus auf das Potenzial der multitude in Unternehmen sinnvolle, echte Frei-Räume zu öffnen und damit wertvolle Effizienzen zu heben. Wo Menschen in offener Bewegung als Viele agieren können, werden Emergenzen nutzbar. Vertraut man in diese und versucht auf der Welle des Flow zu surfen, so transformiert die multitude ihre eigene VUCA-ness von ganz allein in die Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit guter Ergebnisse.

Johannes Ries

Wuchernder Organismus statt starrer Maschine: Die VUCA-resiliente Organisation (VUCA-Handling III)

Macht Rhizom, nicht Wurzeln, pflanzt nichts an! (…)
Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! (…)
Seid schnell, auch im Stillstand! (…)
Lasst keinen General in euch aufkommen!

Diese Imperative formulieren 1980 der Psychiater Félix Guattari und der Philosoph Gilles Deleuze in ihrem kryptischen Mammutwerk Tausend Plateaus, das heute eines der wichtigsten Referenzwerke der zeitgenössischen Philosophie ist. Vor kurzem habe ich in diesem Blog das Konzept VUCA als derzeit verstärkt in die Diskussion kommende Beschreibung einer immer virulenter werdenden Belastung des Menschen im Unternehmen skizziert. In einem weiteren Beitrag habe ich versucht, mit einem Blick auf China einen alternativen Strategieansatz vorzustellen, der ein adäquateres VUCA-Handling darstellen könnte. In den folgenden Abschnitten möchte ich der Frage nachspüren, wie eine VUCA-resiliente Organisation aussehen könnte.

Die Philosophie kann – auch wenn sie von Zeitgenossen oft als weltfremd wahrgenommen wird – als Seismograph für die Zukunftsthemen der realen Welt gesehen werden. Als Avantgarde sucht die Philosophie heute vielfach (unbewusst) die Antworten auf die Herausforderungen der Unternehmenswelt von morgen. Dieser Hypothese folgend möchte ich überprüfen, welche Impulse das obige Zitat von 1980 für ein erfolgreicheres VUCA-Handling heute haben könnte.

Deleuze und Guattari nutzen eine botanische Analogie, um zwei verschiedene Denkhaltungen und Organisationsformen zu unterscheiden: Wurzel versus Rhizom.

Die Wurzel: Eine dem Wurzeldenken verpflichtete Organisationsform bildet stets eine klare Struktur und Hierarchie aus. Sie hat ein Zentrum und ist auf Dauer ausgelegt. Ihr Wachstum geschieht vertikal: Wie beim Baum alle Wurzelstränge in einem zentralen Stamm zusammenlaufen, sind in der Wurzelorganisation alle Funktionslinien auf die oberste Führung hin ausgerichtet. Ein Wurzelsystem ist nicht teilbar, da jeder Wurzelstrang zum Überleben des anderen notwendig ist. Wer einen Baum an einer bestimmten Stelle kappt, tötet damit alle verbundenen Verästelungen – im schlimmsten Fall sogar den gesamten Baum. Analog dazu können einzelne Teile einer Wurzelorganisation nicht unabhängig von der Zentrale und den anderen Funktionen existieren. Das Wurzeldenken ist stets auf den originalen Ursprung, das stabile Sein, den beständigen Zustand und die eigene Einheit fokussiert.

Dem entgegen setzen Deleuze und Guattari eine andere botanische Lebensform, die weniger bekannt ist:

Das Rhizom: Rhizome sind Gewächse mit einem sogenannten Sprossachsensystem. Im Gegensatz zu den meisten anderen Pflanzen, bei welchen Wurzel, Spross und Früchte eindeutig differenzierbar sind, bilden sich Rhizome als Wurzelstengelwerke aus, in welchen Trieb und Wurzel ununterscheidbar sind. Bekannte Rhizompflanzen sind z.B. Bambus, Ingwer oder Giersch. Sie vermehren sich vegetativ und damit schnell und leicht: Unter der Oberfläche wuchern sie weitflächig – an einer völlig unerwarteten Stelle bricht dann plötzlich ein Schössling hervor. Eine rhizomatisch orientierte Organisation fokussiert sich entsprechend auf das weitläufige Beziehungsgefüge und Netzwerk all ihrer Mitglieder. Sie hat kein Zentrum – auch weil sie immer nur für den Moment und in der Situation stabil ist. Ein organisatorisches Rhizom ist ständig im Wandel, baut sich laufend um und neu auf, wuchert enorm schnell und horizontal. Da es aus singulären Teilchen besteht, die sich ständig in veränderten Konstellationen neu verknüpfen können, kann man ein Rhizom jederzeit an beliebiger Stelle kappen – es reagiert auf den Schnitt umgehend und bildet sich zu einer weiterhin überlebensfähigen Struktur um. Rhizomorganisationen fokussieren sich auf ihr Potenzial, begreifen sich selbst im konstanten Wandel, konzentrieren sich auf das Tun und Werden und feiern ihre Vielfalt und Heterogenität.

Was hat das mit unserer Wirtschaftswelt im aufgeladenen VUCA-Ausnahmezustand zu tun? Schon länger plädieren Organisationsethnologie und Unternehmenskulturforschung dafür, neben der offiziellen Unternehmensstruktur, -hierarchie und -prozesslandschaft auch die impliziten Spielregeln informellen Landkarten der Unternehmenskultur mit in den Blick zu nehmen. Diese werden meist informell gebildet, etwa im old-boys-network, im Klatsch an der Kaffeemaschine, beim Lästern vor dem Kopierer, in den Gesprächen während der Zigarettenpause oder in den Tischgemeinschaften der Kantinen. Hier wirkt dann das verborgene Rhizom der Unternehmenskultur, das nicht selten mit der offiziellen Wurzelhierarchie im Widerstreit liegt. Die Organisationsethnologie wirbt für das Potenzial, welches durch eine öffentliche und bewusste Diskussion der unbewusst wirkenden, impliziten Rhizomregeln von Organisationen entfaltet werden kann.

Vor dem Hintergrund der VUCA-Diskussion kann man jedoch noch einen Schritt weiter gehen mit folgender Hypothese: Mit ihrem Bild des Rhizoms stellten Deleuze und Guattari bereits vor mehr als 30 Jahren eine Denkhaltung und Organisationsphilosophie bereit, mit der sich besser auf Volatilität, Unsicherheit, Complexität und Ambiguität reagieren lässt. Da Rhizome per se kontinuierlich im Wandel sind, können sie sich weit besser anpassen als Wurzeln. Sie können damit höhere Agilität beweisen. Ein rhizomatisches Beziehungsgeflecht denkt grundsätzlich interaktiv und nutzt Schwarmintelligenz – es kann seine eigene Heterogenität und Komplexität damit zum eigenen Vorteil nutzen. Netzwerke kommunizieren stets rhizomartig: Botschaften wuchern in ihnen in einer Geschwindigkeit, die in Hierarchien nie erreicht werden kann. Eine solche virale Kommunikation kann sich als schneller, effektiver und reaktionsfähiger erweisen, als diejenige, die die »offiziellen« Kanäle nutzt. Ein rhizomatisch orientierter Organismus, der in sich Vielfältigkeit birgt und bewahrt, reagiert wesentlich toleranter und souveräner gegenüber Ambiguität, als eine geschlossene, homogene Einheit, die nur einen Weg kennt …

Mit dem Rhizomgedanken lässt sich Organisation als lebendiger Organismus denken. Dies entspricht exakt den Plädoyers der derzeit erscheinenden neuen Ansätze der unternehmensorientierten Organisationsentwicklung:

Connected Company: Dave Gray stellt 2012 die Divided Company und die Connected Company gegenüber: Erstere ist durch Hierarchie, Arbeitsteilung, Spezialisierung, Stabilität und Vorhersehbarkeit in stabilen Umfeldern charakterisiert. Letztere zeichnet sich durch Holarchie (ganzheitliche Eigenständigkeit der Teile), fraktalen Arbeitseinheiten, Autonomie, Flexibilität und Adaptivität an unsichere Umwelten aus. Die Connected Company besteht aus einer serviceorientierten Plattform, von der aus sogenannte Pods nicht gesteuert, sondern in ihren unabhängigen (aber vernetzten) Aktionen mit Fokus auf den Kunden optimal unterstützt werden.

Communities: Jörg und Rüdiger Müngersdorff plädieren ebenfalls 2012 dafür, das Potenzial der Communities, die jenseits der Kästchen und Linien der Organigramme jede Organisation wild »durchwegen«,für Organisationsentwicklung und Change Management zu nutzen. Hierzu macht es Sinn, die bridgepeople der Organisation zusammenzuschließen. Damit werden die Netzwerkbroker bezeichnet, die gut vernetzt Zugang in mehrere Communities haben, in welchen einer Lagerfeuergemeinschaft gleich über Geschichten kommuniziert wird.

Beta-Organisation: Niels Pfläging nennt seinen Entwurf einer Organisation, die mit Komplexität umgehen kann, Beta-Organisation (2013). Während sich »alte« Alpha-Unternehmen auf Abhängigkeiten, Abteilungen, Management, Pflichterfüllung, Maximierung, Anreizung, Planung, Bürokratie, Status, Macht und Anweisung verlassen, fokussiert sich eine Beta-Organisation auf Sinnkopplung, Zellen, Führung, Ergebniskultur, Passgenauigkeit, relative Ziele, Teilhabe, Vorbereitung, Konsequenz, Zweck, Intelligenz und Marktdynamik.

Light Footprint Organization: Vor kurzem hat auch Charles-Edouard Bouées die Light Footprint Organization skizziert (2013). Damit diese sich optimal an ihr sich schnell veränderndes Umfeld und die Fluidität der Ereignisse anpassen kann, muss sie sich modular aufbauen als lose Allianz von weitgehend autonomen, multidisziplinären Teams. Bouée plädiert dabei für mehr Dezentralisierung, Pragmatismus, Opportunismus und Offenheit für Experimente. Gut ausgebildete und optimal ausgestattete kleine und agilen Team, die unter dem Paradigma der Reziprozität intensiv kooperieren, sieht er als Erfolgsgaranten für Unternehmen, die auch zukünftig in der VUCA-Welt bestehen können.

Dual Operating System: Auch John Kotter macht sich in seinem erst einige Tage altem Buch XLR8 (Accelerate, 2014) Gedanken darüber, wie Organisationen der kontinuierlichen Beschleunigung der VUCA-Situation standhalten können. Auch er entwirft ein Dual Operating System, welches neben sichernder, stabiler und verlässlicher Hierarchie auf die Geschwindigkeit, Anpassungsfähigkeit und Innovationskraft von Netzwerken in Unternehmen setzt. Kotter verspricht sich von gut vernetzten Change Agents eine stärkere Veränderungsbereitschaft und Adaptionsfähigkeit von Unternehmen.

Diese fünf Beispiele aus dem aktuellen Organisationsentwicklungsdiskurs zeigen, welches Potenzial die Philosophie (und neben ihr wohl andere Avantgarde-Randdisziplinen wie etwa zeitgenössische Kunst) für ein erfolgreiches VUCA-Handling bereithalten dürften. In den Unternehmenskontext übersetzt dürfte das eingangs aufgeführte Zitat von Deleuze und Guattari (wohl unter Zustimmung der aufgeführten Organisationsentwickler) lauten:

»Netzwerk-Interaktion, Diversität, Agilität sowie die Reduktion autoritärer Strukturen und Mindsets sind die wichtigsten Schlüssel zur VUCA-resilienten Organisation!«

Johannes Ries

Laufen lassen ohne loszulassen: Strategie in der VUCA Welt (VUCA-Handling II)

Der klügste Krieger ist der,
der niemals kämpfen muss.
(Sun Tzu)

In der Begleitung internationaler Projekt- oder Teamarbeit erleben wir oft ein europäisches Bild von China, das den asiatischen Projektpartner in eher dunklen Tönen koloriert: Chinesen sind darin unberechenbar, unpräzise, wendehälsisch, ausweichend, aktionistisch … alles andere als zuverlässige Projektpartner, mit denen man eine stabile Zusammenarbeit aufbauen kann. Wie so oft mag es sich hier um Vorurteile handeln, die bei genauerem Hinsehen ein Körnchen Wahrheit in sich tragen. Fakten die – wertfrei betrachtet – auf ein anderes (und nicht notwendigerweise falsches) Verhalten hindeuten. Ich möchte in diesem Beitrag der Hypothese nachspüren, dass Chinesen Projekte und ihr gesamtes Unternehmensgeschäft tatsächlich strategisch anders angehen … und dass hinter ihrer »Unzuverlässigkeit« ein erfolgreicheres strategisches VUCA-Handling steckt.

Dazu möchte ich in dem Feld beginnen, aus welchem auch das Wort »Strategie« selbst stammt: der Kriegsführung. Der französische Philosoph und Sinologe Francois Jullien spürt seit langem den Unterschieden zwischen europäischer und asiatischer Philosophien und Weltbilder nach. Für die Unternehmenswelt höchst interessant ist sein Vergleich der beiden Kriegsstrategen Carl von Clausewitz und Sun Tzu. Während der preußische Militärtheoretiker seinen Klassiker Vom Kriege in den 1830er Jahren veröffentlichte, erörterte Sun Tzu bereits um 500 v. Chr. in Die Kunst des Krieges die Erfolgsfaktoren einer guten Heeresführung. Worin liegen aber die Unterschiede des europäischen und des chinesischen Kriegsstrategen?

Für Clausewitz braucht ein erfolgreicher Heerführer einen guten Plan, der als ideale Grundlage die einzelnen Schritte hin zum Ziel und Ergebnis von Anfang an definiert. In einer Kette von Einzelschritten führt in diesem Modell gemäß der Logik von Mittel und Zweck eins zum anderen, um am Ende den Sieg zu erreichen. Dabei ist sich Clausewitz bewusst, dass die Realität den Plan durchkreuzt und zu geringfügigen Abweichungen führen kann. Sie stellt jedoch den Plan an sich niemals in Frage. Ja sogar: Je widriger die Umstände und je heldenhafter und mutiger die Einhaltung des Plans, desto größer das Überraschungsmoment gegenüber dem Feind und damit desto wirksamer der Plan. In der strategischen Planung steht das Handeln des Einzelnen mit Fokus auf den kürzesten Weg zwischen Mittel und Zweck im Fokus – das aktiv tätige Subjekt hält mit aller Kraft am Plan fest und hat damit die besten Chancen, ein erfolgreicher Kriegsheld zu werden.

Über 2.300 Jahre vor Clausewitz formuliert Sun Tzu ein anderes strategisches Erfolgskonzept. Es geht bei ihm darum, in jedem Moment die aktuelle Konstellation zum Wohle und Vorteil aller zu nutzen. Ausgangspunkt seines Denkens ist damit nicht das zukünftige Ziel, sondern die aktuelle Situation mit ihrem Potenzial. Strategisch denken heißt für Sun Tzu, die günstigen Faktoren des Jetzt ausmachen und von ihnen zu profitieren. Einen idealen Plan gibt es nicht, genau so wenig wie ein Denken in Zweckrationalität. Sun Tzus strategischer Führer lässt ein Umfeld von für ihn günstigen Faktoren heranwachsen, das ihm am Ende den Sieg bringt. Das Ideal: Beim Zusammentreffen mit dem Feind ist die Situation der Begegnung so gut vorbereitet, dass der Feind an sich selbst scheitert bzw. »bereits geschlagen ist«. Sun Tzu lobt damit den leichten Sieg, der unsichtbar erreicht wurde. Dazu muss der Feldherr den Prozess laufen lassen, ohne ihn loszulassen; er muss diskret sekundieren und sich der Neigung anpassen, nach Laozi »dem helfen, was von allein kommt«. Er versteht sich als Wandler der Situation im Hintergrund und nicht als aktiv Handelnder.

Strategielandkarten, Zielkaskade, Meilensteine, Jahreszielvereinbarungsgespräche, Maßnahmenkataloge, KPI-Cockpits … die strategische Realität europäischer Unternehmen klingt im Moment eher nach Clausewitz als nach Sun Tzu. Die Gegenüberstellung der beiden erklärt aus meiner Perspektive das kulturelle Missverständnis chinesischer Projektarbeit durch Europa. Es ist nicht die Unfähigkeit der chinesischen Partner, die sie unzuverlässig macht; es ist der fundamental unterschiedliche Ansatz, der die beiden Partner nicht passfähig macht. Europa tut gut daran, die eigene (wie es Rüdiger Müngersdorff vor kurzem schön beschrieben hat), immer noch sehr kolonialistisch getönte Brille abzusetzen, die Vorurteile kritisch zu hinterfragen und gemeinsam mit China auf Augenhöhe auf die Situation zu blicken.

Ich möchte jedoch – entsprechend der eingangs genannten Hypothese – noch weiter gehen: Vielleicht täte Europa gut daran, die chinesische Brille aufzusetzen, um in der VUCA-Welt bessere Strategiearbeit leisten zu können? In seinem erst vor einigen Monaten erschienenen Buch Light Footprint Management skizziert Charles-Edouard Bouée die strategischen Erfolgsfaktoren der heutigen Unternehmerwelt. Auch ihm zufolge liegt einer der Schlüssel in China.

Eine erfolgreiche Strategie in VUCA-Zeiten hat nach Bouée das gesamte Umfeld im Blick und ist hoch adaptiv bezüglich der Fluidität der Umgebung. Sie arbeitet nicht mehr mit einer präzise ausformulierten Zielvision, die detailverliebt bis auf Maßnahmenebene herunterkaskadiert wird. Vielmehr formuliert eine intelligente Strategie eine fuzzyvision, die zwar nicht beliebig ist, jedoch genügend Spielraum für Anpassungsmanöver lässt. Präzise beschrieben und schnell ausgeführt hingegen müssen die Taktiken sein, die im richtigen Moment platziert werden. Schnelle Aktion und geduldiges Warten (während dessen man jedoch stets hoch aufmerksam einsatzbereit bleibt) wechseln sich ab. Nicht der Meilenstein definiert den richtigen Zeitpunkt, sondern die günstige Gelegenheit. Das pragmatische Experiment, dessen (Miss-)Erfolgsfaktoren schnell ausgewertet und für die nächsten Aktionen »eingerechnet« werden, steht über der idealistischen Planerfüllungsutopie … Damit wird deutlich, wie viel aktuell hilfreiche unternehmerische Weisheit in Sun Tzus Jahrtausende altem Strategieansatz liegt.

Die SYNNECTA arbeitet bereits in verschiedenen Projekten mit Kunden, die zukunftsinteressiert offen für neue Wege sind, an der Implementierung von Unternehmensstrategien, die auf ein besseres VUCA-Handling abzielen. Das heißt nicht, dass hier alle »alte« Strategie über Bord geworfen wird; es heißt jedoch, dass – je nach Branche, Unternehmensziel und Organisationskultur ganz unterschiedlich – mehr Leichtigkeit, Agilität und Chancenorientierung zur Grundlage der Unternehmensausrichtung gemacht werden.

Johannes Ries
Foto: By vlasta2, bluefootedbooby on flickr.com [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons

Neue Blog-Serie: VUCA-Handling

Gerade beginnt sich eine Abkürzung in die Diskussionen über zeitgemäße Organisations- und Personalentwicklung zu schleichen: »VUCA«. Das Akronym hat einen militärhistorischen Hintergrund: Ab Mitte der 1990erJahre wurde VUCA in den US-amerikanischen Kaderschmieden der Militärakademien zum Leitwort für die Beschreibung einer neuen Situation nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks. Das Wort passt heute ebenfalls auf den Wirtschaftskontext.

Auch die Unternehmenswelt kämpft immer mehr mit VUCA: mit Volatilität, Unsicherheit, Complexität und Ambiguität.

Volatilität: Unsere Welt wird immer instabiler, keiner weiß, wie lange etwas standhält und wann sich die Situation fundamental verändert. Gleichzeitig erfolgen Wechsel immer drastischer. Ereignisse kommen und Prozesse verlaufen völlig unerwartet. Preise, die früher über Monate und Jahre stabil waren, springen heute z. B. kurzfristig zwischen Minimum und Maximum hin und her …

Unsicherheit: Die Zukunft ist immer weniger vorhersehbar, wir wissen immer weniger, wohin die Reise geht. Vorhersagen erweisen sich immer öfter als unzuverlässig und uns entgleitet die Berechenbarkeit von früher. So wird z. B. die Autorität von Experten immer mehr untergraben, da sie auf Basis der gleichen Datengrundlage zu völlig konträren Aussagen kommen …

Complexität: Durch Globalisierung und Internet ist unsere Welt mittlerweile so stark vernetzt, dass eine Handlung heute weit mehr Auswirkungen hat als früher. Es wird dabei gleichzeitig immer schwieriger, Ursache und Wirkung sauber zu trennen. Eine unachtsame Aussage in Facebook etwa kann einen Shitstorm provozieren, während eine andere völlig ungehört bleibt …

Ambiguität: Unsere Welt hat ihre Eindeutigkeit verloren, sie ist nicht mehr exakt bestimmbar. Zu jeder Sicht gibt es mittlerweile eine zweite, dritte, x-te alternative Sicht. Wir sind immer mehr mit Paradoxien konfrontiert, die nicht aufgelöst werden können. In der Matrix-Organisation streitet z. B. die Anweisung meines Chefs wider mit der eines indirekt Vorgesetzten …

Die VUCA-ness der Wirtschaftswelt setzt Mitarbeitende und Führungskräfte mehr und mehr unter psychischen Druck. So erlebe ich zum Beispiel als eine der größten Herausforderungen für Führungskräfte derzeit folgende Situation: Verunsicherte Mitarbeitende fordern von ihren Führungskräften Orientierung, da das Unternehmen und dessen Umfeld keine stabile Grundlage und Ausrichtung mehr liefern. Führungskräfte können jedoch keine Orientierung geben, da die VUCA-ness der Situation keine Festlegung ermöglicht. Auf Volatilität reagieren sie mit einer immer schnelleren Anpassung der strategischen Ziele; auf die Unsicherheit mit ständig wechselnden Durchhalteparolen; auf Komplexität mit Ruf nach schnellerem Handeln; auf Ambiguität mit dem Pochen auf die eigene Perspektive. Dadurch wird jedoch nicht die VUCA-Situation aufgehoben, sondern allein eine Scheinstabilität erzeugt … – die nach kurzer Zeit wieder zusammenbricht. Früher oder später verlieren Führungskräfte damit ihre Glaubwürdigkeit; die Mitarbeitenden reagieren mit Resignation.

Die unsichere und instabile Situation führt in vielen Unternehmen dazu, dass wieder ein Führungstypus bevorzugt wird, der durch eine harte Linie Autorität und klare Entscheidungskompetenz ausstrahlt – dies wird dann als Führungskompetenz verstanden, die klar zu orientieren und Sicherheit herzustellen vermag. Wir erleben hier jedoch oft einen grundsätzlichen Mangel an Empathie, holistischer Perspektive und Situationsverständnis. Die angeblich hergestellt Sicherheit und falsch verstandene Führungsstärke gründet dann nur zu oft auf der Furcht der Mitarbeitenden. Erneut wird nur eine Scheinstabilität erzeugt: die VUCA-ness wird von der Angst mehr verstärkt als dass sie aufgehoben würde.

Viele Führungskräfte überkommt in dieser Situation Selbstzweifel. Sie fühlen sich inkompetent in der Anwendung der gängigen Führungsinstrumente, nicht selten sehen sie sich im Ausnahmezustand. Allein der Hinweis darauf, dass im Moment in fast allen Unternehmen auf allen Ebenen Führungskräfte mit und gegen VUCA kämpfen, wirkt hier für die Selbstzweifler entspannend. Wann immer ich dann in Coachings, Workshops oder Veranstaltungen die Abkürzung VUCA als hypothetische Situationsbeschreibung ins Spiel bringe, ernte ich eifriges Kopfnicken. Das Neuwort dockt dann genau an die Erfahrungswelt meiner Gesprächspartner an. Oft reagieren diese mit Erleichterung, dass ihre Befindlichkeit endlich auf einen griffigen Punkt gebracht worden ist – sie können durch den Begriff VUCA Sicherheit in eine Gefühlslage bringen, die davor selbst undurchsichtig, unsicher, unklar (da nicht beschreibbar) war. Der Begrifflichkeit kann dann das Begreifen folgen: Das Wort VUCA ist der erste Schritt, um über neue Wege im Umgang mit VUCA nachzudenken.

Kompetenz im Umgang mit VUCA wird essenziell zum Portfolio einer guten Führungskraft gehören müssen, um in Unternehmen gut führen zu können. Gleichzeitig wird es jedoch nicht ausreichen, allein die richtigen, VUCA-kompetenten Persönlichkeiten in Führungspositionen zu bringen. Es sind auch die Führungsinstrumente und organisationskulturellen Mind-sets die immer weniger geeignet sind, die VUCA-ness der Unternehmenswelt zu bewältigen. Dies in Betracht zu ziehen, zu prüfen und eventuell anzuerkennen, ist der erste Schritt zum erfolgreichen VUCA-Handling. Damit, so bin ich überzeugt, werden Unternehmen, die sich aktiv mit VUCA auseinandersetzen, in naher Zukunft Vorteile gegenüber den Wettbewerbern haben, die im alten Stil weitermachen.

In der SYNNECTA führen wir derzeit eine intensive Diskussion, wie auf allen Ebenen des Unternehmens ein erfolgreiches VUCA-Handling aussehen kann. Die Früchte unserer Auseinandersetzung werden wir in der nächsten Zeit im SYNNECTA-Blog zur Verfügung stellen.

Als Anfang wird in Kürze der Fokus auf der Frage liegen, wie in VUCA-Zeiten ein erfolgsversprechender Strategieansatz aussehen kann.

Johannes Ries