Wie du bist, wie die Welt ist – das ist das Irreparable.
(Giorgio Agamben)

In seinem kleinen, aber philosophisch sehr dichtem Büchlein Die kommende Gemeinschaft erhebt der italienische Philosoph Giorgio Agamben (vgl. auch den Blog-Beitrag zum Thema Ausnahmezustand) das Irreparable zum Zeichen des eigentlichen Seins: »Das Irreparable ist weder eine Essenz noch eine Existenz, weder eine Substanz noch eine Qualität, weder etwas Notwendiges noch etwas Zufälliges. Eigentlich ist es gar keine Modalität des Seins, sondern das Sein, das je schon immer auf seine Weise gegeben ist, seine Modalitäten ist. Es ist nicht so, sondern sein So.«

Für die Welt der Unternehmen klingt diese Idee absonderlich – nicht nur, weil die eben zitierten Sätze stilistisch mit der typischen Managementliteratur nicht passfähig sind. Etwas Defektes, Kaputtes, Schad- und Mangelhaftes zum Zeichen des wahren Seins zu erheben? Das klingt nicht nur absonderlich, sondern nach Dummheit. Jeder Kunde würde ein irreparables Produkt reklamieren und es reparieren oder sich ersetzen lassen. Jedoch geht es in der Wirtschaft nicht nur um Produkte, sondern auch um Menschen, die die Güter produzieren. Und für den Menschen im Unternehmen erscheint mir die Irreparablität in zwei Bezügen relevant: Erstens in Bezug auf das Thema Burnout und zweitens beim Aufbau einer positiven Fehlerkultur.

Zum ersten Punkt: Bereits in den 1990ern hat der französische Philosoph Gilles Deleuze (von dem in diesem Blog ebenfalls bereits im Zusammenhang mit dem Rhizom die Rede war) die heutige Verfasstheit unserer Gesellschaft erhellend skizziert. Er hat sie Kontrollgesellschaft genannt, die seinen Beobachtungen zufolge die Disziplinargesellschaft ablöst. Die Disziplinargesellschaft des 18., 19. und 20. Jahrhunderts diszipliniert ihre Bürger in sogenannten »Einschließungsmilieus«, die über je eigene Regeln und Gesetzmäßigkeiten klar definieren, was jemand darf und vor allem nicht darf. Die Kontrollgesellschaft hingegen gestaltet sich als entgrenzte Gesellschaft, in dem jedem unter dem Paradigma der Freiheit und Selbstverantwortlichkeit potentiell alles erlaubt ist – es erfolgt jedoch mit »ultra-schnellen Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen« eine Steuerung des Individuums. So wird diesem subtil suggeriert, kontinuierlich etwas aus sich machen zu müssen.

Während der Mensch in der Disziplinargesellschaft beim Wechsel in eine neue Rolle »jedesmal wieder bei Null anfangen muß« und daher »nie auf(hört) anzufangen«, wird der Mensch in der Kontrollgesellschaft »nie mit etwas fertig«, so Deleuze. Es gibt immer noch weitere Performanceaspekte, in denen man sich optimieren kann, und andere Weiterbildungsmöglichkeiten, die man noch nicht genutzt hat … Das eigene Potenzial nicht voll auszuschöpfen gilt in der Kontrollgesellschaft als Todsünde, Applewatch und Self-Tracking-Armbänder sind ihre neuen Statussymbole. Byung Chul Han (in diesem Blog ebenfalls bereits als Verfechter des Erzählens vorgestellt) hat im Anschluss an Deleuze dieses kontrollgesellschaftliche Übermaß an Positivität bei gleichzeitigem Fehlen jeglicher (negativer) Grenzen als Urgrund für das Phänomen des Burnout identifiziert. Es ist nicht der Druck von oben, der überfordert, sondern der selbst gemachte Druck von innen.

In meinem Vorschlag, den neuen Herausforderungen der VUCA-Welt durch ein VUCA-AIKIDO zu begegnen, habe ich unter der Grundhaltung Klarheit die aus meiner Perspektive wichtige Kompetenz »Ich kenne (meine) Grenzen« formuliert. Wenn die VUCA-Welt eine Kontrollgesellschaft im Deleuzeschen Sinne produziert, in deren Grenzenlosigkeit ich mich durch einen übersteigerten Selbstoptimierungswahn selbst in den Burnout treibe, so ist die Selbstbegrenzung essentiell notwendig. Sich in diesem Zusammenhang einzugestehen und zu erlauben, suboptimal zu sein, zieht diese Grenze. Sich selbst Refugien der Irreparabilität zu erlauben, erlaubt einen souveränen Umgang mit den subtilen Forderungen der Kontrollgesellschaft: Ich selbst entscheide, wo ich die mir zur Verfügung stehende Zeit und die vorhandenen Ressourcen investiere, um besser zu werden. Ich selbst entscheide jedoch ebenfalls, wo ich so suboptimal bleibe, wie ich bin. Es geht dabei nicht darum, weniger Leistung zu fordern. Es geht darum, in selbst gewählten Bereichen fokussiert sein Bestes zu geben ohne überall perfekt sein zu müssen.

Zum zweiten Punkt: Produzierende Unternehmen fokussieren (in Verknüpfung mit den Dimensionen Zeit und Kosten) stets auf Qualität. Fehlerhafte Produkte werden aussortiert und nicht in den Verkauf gebracht. Je sicherheitsrelevanter das Produkt, desto stärker natürlich der Fokus auf Qualität. Sehr oft schlägt sich jedoch der Umgang mit dem Produkt in der Unternehmenskultur auch auf den Umgang mit dem Menschen nieder. Dann gilt: je sicherheitsrelevanter das Produkt, desto wichtiger sind in der Unternehmenskultur oft Abstimmungsbedürfnis, Pochen auf Prozesstreue, Statusorientierung etc. Der Fokus auf ein perfektes Produkt produziert in Unternehmen oft perfektionistische Menschen.

Hinzu kommt, dass auch unser kultur- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Verhaltensfehler in einen existenziellen Zusammenhang stellt. Der große Soziologe Max Weber hat bereits Anfang des 20. Jahrhunderts dargestellt, wie eng Christentum und unsere heutige Wirtschaftsweise verknüpft sind. Auch die praktizierte Fehlerkultur in Unternehmen kann man im diesem Licht interpretieren: Im Christentum wird aus Verhaltensfehlern schnell ein menschlicher Makel, der als Sünde den Eintritt ins christliche Paradies in Frage stellt. Analog stellt in Unternehmen ein Fehler schnell die Daseinsberechtigung des Mitarbeiters im Unternehmen in Frage. Wichtiger als die Fehlerbehebung ist in Betrieben oft die Suche nach dem »Schuldigen«. Als Gegenprogramm zu dieser Kultur mag Giorgio Agambens Plädoyer für die Irreparabilität stehen: »Ohne Zuflucht und dennoch gerettet – gerettet in sein irreparables Sein.« Wahres Sein ist wie es ist – in der Realität bestehend, fehlerhaft und makelvoll.

Natürlich ist dies auch kein Aufruf zur Nachlässigkeit oder zur gewollten Sabotage. Es geht mir vielmehr um Folgendes: In der VUCA-Welt entgleiten Stabilität und Sicherheit und es ist damit völlig logisch, dass die Fehleranfälligkeit ansteigt. Damit steigt der Druck auf das perfektionistisch tickende Individuum in einer auf kontinuierliche Optimierung fokussierten Unternehmenskultur enorm. Gleichzeitig ist das Experimentieren in der VUCA-Situation jedoch die einzige Möglichkeit herauszufinden, was funktioniert oder eben nicht funktioniert. Und Experimente scheitern mitunter. In der VUCA-Situation handle ich sinnvollerweise zuerst, um anschließend schnell zu bewerten, ob mein Handeln hilfreich war oder eben nicht (vgl. Dave Snowdens bereits in diesem Blog proträtierten Cynefin-Ansatz für komplexe und chaotische Bereiche). Ein Fehler ist aus meiner Perspektive in der VUCA-Situation vor allem eins: Wertvoller Träger von Information! Er hilft mir, mein Verhalten adäquat anzupassen, und jenseits der Perfektion besser zu werden. Ich sehe aus diesem Grund in meinem Vorschlag zum VUCA-AIKIDO die Offenheit für Experimente und die Wertschätzung von Fehlern als Lernchancen als wichtige Bestandteile der Grundhaltung Intuition an.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle noch einmal betonen, dass es mir nicht darum geht, die sogenannte Minderperformance zu loben und weniger Leistung im Unternehmen zu fordern. Es geht mir vielmehr darum, Unternehmen beim Aufbau einer Unternehmenskultur zu unterstützen, die es Mitarbeitern erlaubt in realistischer Weise ihr Bestes zu geben, ohne perfekt sein zu müssen. Ich bin fest überzeugt, dass dies die gesündere und damit auch nachhaltig erfolgreichere Art und Weise des Wirtschaftens ist.

Für diesen Aufbau einer leistungsstarken, jedoch die Irreparabilität des Einzelnen anerkennenden Unternehmenskultur halte ich das Stroke-Modell der Transaktionsanalyse für sehr hilfreich. Deren Gründervater Eric Berne hat bereits in den 1950ern beschrieben, wie ein vertrauensvolles und leistungsförderndes Umfeld erzeugt werden kann. Interaktion mit anderen und die Aufmerksamkeit seiner Artgenossen ist ein Grundbedürfnis eines jedes Menschen. Tatsächlich zeigen Studien und Berichte seit Jahrhunderten, dass der Mensch buchstäblich stirbt, wenn ihm die Befriedigung dieser beiden Grundbedürfnisse vorenthalten wird. Berne definiert nun eine »Einheit an Aufmerksamkeit« als Stroke. Wenn wir uns begegnen, tauschen wir mit jedem »Hallo« oder jedem Kopfnicken Strokes aus. Und wenn wir stehen bleiben und in eine Unterhaltung einsteigen, so geht dieser Austausch munter weiter …

Der englische Terminus stroke hat für unseren Kontext eine wichtige Doppeldeutung: To stroke somebody meint, jemanden streicheln, bezeichnet also eine positiv wahrgenommene Handlung. To give somebody a stroke kann jedoch auch heißen, jemanden zu schlagen – was gemeinhin negativ wahrgenommen wird. Korrespondierend kann man mit anderen positive und negative Strokes austauschen. Alle Botschaften und Handlungen, die ein »Ich mag Dich« signalisieren, senden positive Strokes. Umgekehrt senden alle Botschaften und Handlungen, die ein »Ich mag Dich nicht« signalisieren, negative Strokes. Eine weitere, sehr wichtige Unterscheidung im Stroke-Modell ist der Unterschied zwischen bedingten und unbedingten Strokes. Bedingte Strokes fokussieren sich auf das Tun, auf das Verhalten, auf die Performance des anderen. Sie geben uns immer auch eine »Weil-Information«: Ich mag Dein Verhalten (nicht), weil Du dieses oder jenes (nicht) tust. Unbedingte Strokes dagegen fokussieren sich auf das reine Sein. Sie beziehen sich auf die Person an sich, auf deren Essenz und Existenz und sind damit wesentlich »stärker« als bedingte Strokes. Unbedingte Strokes wie »Ich arbeite sehr gerne mit Ihnen zusammen!« bzw. »Was für ein Idiot sind Sie denn?« (beide ohne jedes »Weil«) wirken wesentlich stärker als bedingte Strokes wie »Gute Arbeit!« oder »Hier haben Sie einen Fehler gemacht!«.

In Korrelation gebracht gibt es nun vier Arten von Strokes, die Menschen im Unternehmen miteinander austauschen:

  1. Unbedingte positive Strokes: Alle Botschaften und Handlungen, die dem anderen zeigen, dass ich ihn grundsätzlich als Menschen schätze und seine generelle Mitarbeit im Unternehmen nicht in Frage stelle.
  2. Bedingte positive Strokes: Alle Botschaften und Handlungen, die dem anderen zeigen, was ich an seinem Verhalten gut finde, was er beibehalten soll.
  3. Bedingte negative Strokes: Alle Botschaften und Handlungen, die dem anderen zeigen, was ich an seinem Verhalten nicht gut finde, was er besser machen könnte.
  4. Unbedingte negative Strokes: Alle Botschaften und Handlungen, die dem anderen zeigen, dass ich ihn grundsätzlich als Mensch ablehne und seine generelle Mitarbeit im Unternehmen in Frage stelle.

Aus der Aufzählung ist vielleicht schon ersichtlich, welches Stroke-Verhalten eine vertrauensvolle und gleichzeitig performance-orientierte Unternehmenskultur etablieren kann: Unbedingte positive Strokes bauen grundsätzliches Vertrauen in sich selbst und in andere auf. Sie bilden die wichtigste Grundlage für eine wertschätzende Unternehmenskultur (werden jedoch aus meiner Erfahrung im Unternehmen am meisten vernachlässigt). Wenn ich dem anderen im Unternehmen das Gefühl vermittle, dass er als Mensch zählt und sein Arbeitsplatz sicher ist, steigere ich damit grundlegend seine Leistungsmotivation. Auf dieser Basis kann durch bedingte positive Strokes Selbstvertrauen etabliert werden: Ich mache dem anderen durch Rückmeldung bewusst, wo seine Stärken liegen und was er weiterhin tun soll. Bedingte negative Strokes fördern im Gegenzug Selbstkritik und bilden die Grundlage von lernender Entwicklung: Ich melde dem anderen zurück, wo er Verbesserungspotenziale hat und was ich mir anders wünsche – er kann auf dieser Basis sein Verhalten verändern. (Den Austausch von bedingten Strokes kennen viele Mitarbeitende im Unternehmen als Feedback. Insofern ist es hier hilfreich, die bekannten Feedbackregeln anzuwenden: Ich-Botschaften, konkrete Beispiele, Fokus auf beobachtetes Verhalten …) Unbedingte negative Strokes sollten in jedem Fall vermieden werden. Sie führen beim anderen zu nichts als zur Zerstörung von Vertrauen in sich selbst und andere, zu Frustration und Demotivation.

Betonen möchte ich in diesem Zusammenhang vor allem: Wenn ich jemanden kritisiere, so sollte ich kontinuierlich sicherstellen, dass der andere meine Kritik als Kritik an seinem Verhalten und nicht an seiner Person auffasst. Zu schnell »hört« der andere bedingt negativ gemeinte Strokes als unbedingt negative. Am nachhaltigsten kann ich dies jedoch verhindern, indem ich genügend unbedingte positive Strokes sende. Die Erfahrung scheint folgende Faustregel zu bestätigen: Je mehr unbedingt positive Strokes ich austeile, desto »heftiger« kann ich Performance einfordern, ohne meine Mitarbeiter zu demotivieren und ihr Vertrauen zu verlieren.

Führungskräfte und Mitarbeiter berichten oft, dass in Unternehmen die unbedingten positiven Strokes zu kurz kommen. Wahrscheinlich ist dies dem Umstand geschuldet, dass diese sich übereine positive »Verschwendung« im Sinne eines bereits skizzierten In-Waste-Ment generieren lassen: Ich schenke dem anderen Aufmerksamkeit ohne Hintergedanken zu haben, reserviere Zeit für Gespräche über nicht-geschäftliche Themen, investiere in Gemeinschaft stiftende »sinn-lose« Aktivitäten, … Mit diesem In-Waste-Ment produziere ich nachhaltig ein Gefühl der Wertschätzung und grundsätzliches Vertrauen. Um auf den Beginn diese Beitrags zurückzukehren: In der Sphäre der unbedingten positiven Strokes liegt auch die Anerkennung des anderen als irreparables Wesen. Noch einmal Giorgio Agamben: »Etwas einzig in seinem So-Sein wahrzunehmen: als irreparabel, doch gleichwohl nicht notwendig; so wie es ist, doch deshalb nicht als zufällig – das ist Liebe.« Übersetzt in den Unternehmenskontext: »So (imperfekt und fehlerhaft) wie Du als Mensch bist, schätze ich Dich. Lass uns gemeinsam sehen, wie Du im Unternehmen Dein Bestes geben kannst …«

Das Stroke-Modell eignet sich nicht nur als Richtschnur für das Verhalten gegenüber dem anderen. Es kann ebenso helfen, sich selbst immer wieder ins rechte Licht zu setzen. Sich selbst genügend unbedingte positive Strokes zu geben, stärkt die eigene Souveränität im (Berufs- und Privat-)Leben.

Sich selbst und den anderen als nicht perfekt zu akzeptieren und dann das Beste draus zu machen … Dies alles mag nach Hippie-Romantik klingen. Meine Erfahrung ist jedoch: In Workshops gewinne ich meist die größte Aufmerksamkeit von Führungskräften und Mitarbeitern mit der Vorstellung des Stroke-Modells. Dies zeigt mir, wie relevant dieses Thema in Unternehmen ist. Ich bin tief überzeugt, dass in der VUCA-Welt diejenigen Unternehmen am erfolgreichsten sein werden, die die Irreparabilität ihrer Mitarbeiter fundamental anerkennen und darauf vertrauen, dass alle ihr Bestes geben.

Johannes Ries