Die Wiederkehr der Masse

Zu Beginn des letzten Jahrhunderts trat das Phänomen der Masse in den Vordergrund theoretischer Erörterungen. Von Gustave Le Bon ausgehend beschäftigten sich unter anderem Elias Canetti, Hermann Broch und Sigmund Freud mit dieser neuen politischen, gesellschaftlichen Realität. Hier schon wird gesehen, dass die Masse dem starken Trend zur Individualisierung entgegensteht. Die meisten Autoren sehen dabei vor allem das Bedenkliche der Massenphänomene, die sie als primär emotional gesteuert und als unvernünftig bzw. vernunftfeindlich sehen. Canetti nimmt eine ambivalente Stellung ein. Dies wird in einem Zitat deutlich:

»Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch das Unbekannte, (…) Es ist die Masse allein, in der der Mensch von seiner Berührungsangst erlöst werden kann.«

Diese Erlösung hat ihren Preis, sie löscht Individualität und Differenzierung aus.

Der Trend zum Individualismus wurde von Nationalkonservativen und später vor allem von faschistischen Bewegungen bekämpft. Die sich geschichtlich öffnende Chance, individuelle Lebensentwürfe zu wählen, Differenz zu leben weckte wohl die Furcht vor dem Unbekannten, von der Canetti sprach. Mit der Wahl der NSDAP in Deutschland wurde das liberale Projekt der Freiheit zunächst gestoppt. In Massenkundgebungen, in ästhetischen Inszenierungen gestaltet, wurde die Entindividualisierung sichtbar vollzogen. Unterstützt wurde diese Bewegung durch das neue Medium: das Massenmedium Radio, das wohl nicht unbeabsichtigt den Namen Volksempfänger trug.

Und heute, in den beginnenden neuen Zwanzigern? Eine Nachricht an Facebook, Instagram oder irgendein anderes soziales Netzwerk: Eine freundliche automatische Antwort: »Danke, dass Du uns das mitgeteilt hast.« Was auch immer individuell und spezifisch Du auch gesagt, gewollt hast, es spielt keine Rolle, Deine individuelle Stimme zählt nichts. Erst wenn Du Teil einer sozialen, ökonomisch oder politisch relevanten Menge bist, wird das Netzwerk aufmerksam. Nicht auf Dich, sondern auf die sich formende Masse. Dann reagiert es – Du selbst kommst nicht vor, du bist nur als ein Teil der Masse interessant.

In den sozialen Medien erleben wir heute, entgegen derer Propaganda, dass sie einen Raum für den Ausdruck eines jeden Einzelnen öffnen, das Gegenteil: einen Prozess der Entindividualisierung. Nur noch die Masse und die Inszenierung der Masse zählt. Digitalisierung wird hier zum Instrument einer Entwicklung, die den mühsamen Weg Europas hin zum Gewinn individueller Freiheit gefährdet und Menschen wieder zur manipulierbaren Masse werden lässt. Wie am Beginn des letzten Jahrhunderts wird die Gegenstimme zum liberal, individualistisch orientierten Trend, der vor allem in den Metropolregionen stark ist, durch die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung und der sozialen Netzwerke befördert oder erst ermöglicht.

Das System der sozialen Netzwerke, die sich in ihren Community Standards eher an konservativ evangelikalen und amerikanischen »Werten« orientieren, wird durch ein großes Netzwerk von Denunzianten unterstützt. Kaum ein Posting, ohne die Aufforderung doch etwas zu melden, was möglicherweise gegen die Standards, die nebenbei sehr undurchsichtig sind, verstoßen könnte. Dies hat eine bedrückende Parallele zu dem Blockwart der NS-Zeit in deutschen Städten und Gemeinden. Früher wurden diese Standards wohl als »gute Sitte« oder auch als »Volkswille« präsentiert.

In dieser Entwicklung sind die naturgemäß stark zersplitterten, liberal und individualistisch orientierten Kräfte hilflos, denn wie kann Individualismus zu einer relevanten Masse geformt werden? In den demokratischen Wahlen werden die liberal orientierten Kandidaten nicht von den rechts konservativen Mengen geschlagen, sondern sie scheitern an der eigenen möglichen Wählerschaft, weil sie immer einige der sehr diversen Anliegen nicht abdecken können.

Es wird eine Aufgabe der neuen Zwanziger sein, der Digitalisierung Individualisierung beizubringen und es wird die große Herausforderung sein, sich als liberal individualistische Gemeinschaft zu sammeln und aus dem Prozess der Selbstzerstörung auszusteigen.

Rüdiger Müngersdorff
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Die politische Dynamik der Organisationsentwicklung II

Ein Unternehmen ist immer auch eine Gemeinschaft und so ein Ort politischen Handelns. Damit meine ich nicht die mikropolitischen Konzepte, die sich im Wesentlichen auf die taktisch-technischen Aspekte des Karrieremachens und des sich Durchsetzens beziehen, sondern auf die Notwendigkeit, Diversität, die Unterschiedlichkeit von Interessen und Perspektiven der Gemeinschaft in der Gemeinschaft zu vermitteln, um ein zielgerichtetes Verhalten und Arbeiten zu ermöglichen.

Das hat einen unternehmensinternen Grund – nämlich die ständige Konstitution des Unternehmens als gemeinsames Anliegen, in dem die Interessen verschiedener Gruppen berücksichtigt werden und es hat einen externen auf den Markt bezogenen Grund, nämlich das Wissen und die Einsichten der Mitarbeiter_innengruppen für Entscheidungsfindungen nutzen zu können.

Es ist derzeit eine allgemein vertretene Meinung, dass hierarchische Konzepte (König/CEO oder Oligarchie/Vorstand/Führungsteam) die agile, diverse, vielperspektivische Kompetenz der Gemeinschaft nicht nutzen können und so die komplexe und kontingente Dynamik des Marktes (VUCA) nicht abzubilden vermögen. Daher gibt es viele Vorschläge, wie die Stimme der Mitarbeiter_innen mehr Bedeutung erlangen und in Entscheidungsprozesse einfließen kann. Dies wird im Allgemeinen mit dem Begriff Demokratisierung sowohl der Unternehmen und als auch der Führung bezeichnet.

Im athenischen Konzept der Demokratie hat die »Agora«, der Ort, an dem die Gemeinschaft zusammentritt und bestimmt, was zu besprechen und was zu entscheiden ist, eine große Bedeutung. Nun ist in einem eher überschaubaren Stadtstaat mit den deutlichen Restriktionen, wer als Bürger zu gelten hat, die Bestimmung eines Ortes und einer Zeit zum Zusammenkommen eher einfacher als in den heutigen global aufgestellten Unternehmen. Dennoch möchte ich über die Idee, dass es so etwas wie eine »Agora« in Unternehmen geben kann, diskutieren und fragen, wie denn Schritte zu einem leistungsfähigen demokratisierenden Prozess der Unternehmensentwicklung aussehen können.

In den heute noch überwiegend hierarchischen Strukturen der Unternehmen bestimmen Hierarchen, wo die Agora des Unternehmens ist und wer zu ihr Zugang hat. Und so bestimmt ein kleiner Zirkel, was es zu besprechen gilt und was zu entscheiden ist. Es ist ein Kreis von Menschen, die eine ähnliche Sozialisation erfahren haben und einander in wesentlichen Grundzügen ähnlich sind. Der große Rest der Organisation wird dann darüber informiert, was nun wichtig ist und was entschieden wurde. Die Information geschieht in einer bürokratisch organisierten Form durch Methoden wie z.B. Zielvereinbarungen, unterstützt von zentral gesteuerten Kampagnen, die die Aufmerksamkeit der Vielen fokussieren sollen. Verstärkung erhält dieses System der Durchsetzung von Führungsentscheidungen durch Belohnungs- und Bestrafungsanreize.

In der Regel sind Unternehmen heute politisch oligarchisch verfasst (ausgenommen Inhaberunternehmen, die eher monarchisch verfasst sind). Das heißt, eine kleine homogene Gruppe bestimmt, wer Zugang zum Ort der thematischen Diskussion und Entscheidung hat, bestimmt die Regeln und Formalien des »Gesprächs« und bewahrt seine Exklusivität (die Erfahrung zeigt, dass es bei Entscheidungen zur Teilnahme an Gesprächen oft mehr um den Status, als um den möglichen inhaltlichen Beitrag geht). Da diese Gruppe gleichzeitig die Hoheit über die Kommunikationsmedien hat, ist die Geschlossenheit der Gruppe gewährleistet – es gibt keine Gewaltenteilung, kein System von »Check and Balance«.

Mit der Verbreitung sozialer Medien in der Gesellschaft, die in das Unternehmen hineinwirken aber auch durch den Aufbau interner sozialer Medien ist das Monopol der Kommunikation in Frage gestellt. Es gibt nun einen sich laut äußernden Resonanzkörper, noch zögerlich, aber immer deutlicher vernehmbarer. Die sozialen Medien bilden »Netzwerke«, thematisch bezogene Gemeinschaften – noch sehr fragmentiert – doch stabiler werdend. So entwickelt sich jenseits der Oligarchie (der Führung) eine eigene Agora, ein Ort oder Orte, in denen Mitglieder der Gemeinschaft des Unternehmens ihre Perspektiven einbringen, Kontroversen sichtbar machen und sich über das, was jetzt nottäte, verständigen. Unternehmen werden laut. Diese Foren sind von der Idee der Teilhabe getragen und verändern so die Führungsrealität. Je mehr unternehmensinterne Plattformen zu einer Agora werden, desto mehr werden sie auf wesentliche Fragen der Unternehmen Einfluss nehmen – sie werden mitbestimmen, welche Themen denn wichtig und zu besprechen sind und, was zu entscheiden ist.

Es ist ein starker Trend, einer der Trends, die sich nicht ignorieren lassen: Alle aktuellen Debatten, so verschieden sie im Einzelnen auch sind, ob Demokratisierung der Unternehmen, #metoo, Gender und Diversity insgesamt, Inklusion, breitere politische Beteiligung – sie haben alle eins gemeinsam: Sie verlangen Gleichheit, Mitsprache, Teilhabe und damit eine Reduzierung der Hierarchie, der Ungleichverteilung von Macht.

Es ist unausweichlich, dass Unternehmen sich in dieser Dynamik damit beschäftigen, wie sie Teilhabe in erheblich größerem Maße als heute ermöglichen können. Und dabei gibt es einen zusätzlichen Gewinn: die Klugheit, die Vielstimmigkeit der Perspektiven und das Engagement der Vielen.

SYNNECTA hat mit dem Durchwegungskonzept (1) Übergangsformen beschrieben, mit denen sich Teilhabe jenseits der üblichen Kampagnenkonzepte einüben lässt. Und in einer Diskussion um eine Teilhabe ermöglichende Unternehmensverfassung geht es nicht um die Abschaffung von Führung, sondern um die Gestaltung von Foren, in denen verschiedenen Interessen und Perspektiven zu einem Gespräch werden können – zum Nutzen der Fähigkeit des Unternehmens, auf Veränderungen im Innen und im Außen agil reagieren zu können.

Differenz ist auch in Unternehmen der wichtigste Motor für Veränderung. Es geht dabei nicht um die Differenz, die schweigend immer schon da ist, sondern um die Unterschiede, die zur Sprache kommen können und für die es einen Ort des Sprechens gibt. Die geschlossenen oligarchischen Strukturen lassen diesen Motor stottern. Heraklit hat in einem Lob auf die Differenz gesagt: »Das Widereinanderstehende zusammenstimmend und aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie.«

Rüdiger Müngersdorff

(1) Rüdiger Müngersdorff/Jörg Müngersdorff: Netzwerke in Unternehmen in Jens Hollmann, Katharina Daniels (Hrsg.) »Anders wirtschaften – was Erfolgreiche besser machen«.