24. Mai 2023
Rund 23 Jahre ist es jetzt her, als T.C. Boyle mit der Veröffentlichung seines Romans »Ein Freund der Erde« einen düsteren Blick in die Zukunft wagte, in das Jahr 2025. Jetzt sind wir fast dort angekommen, und man muss traurigerweise konstatieren: Gesellschaft und Klima stellen sich ziemlich genau so dar, wie Boyle es vor einem Vierteljahrhundert beschrieben hat.
Wohl auch deshalb ist sein neuer Roman Blue Skies mit besonderer Spannung erwartet worden. Er erschien in der Übersetzung von Dirk van Gunsteren am 15. Mai im Hanser Verlag, in etwa zeitgleich mit der englischsprachigen Originalausgabe. Wie in »Ein Freund der Erde« widmet sich T.C. Boyle darin dem Klimawandel und dem Artensterben und wie wir Menschen im Alltag damit umgehen. Nur braucht es – für uns und für den Schriftsteller – nicht mehr den Blick in die Zukunft, um den Ernst der Lage zu beschreiben – und ja, eigentlich auch zu begreifen.
»Blue Skies« spielt in der Gegenwart. Zum einen in Kalifornien, wo Dürre, Trockenheit und Waldbrände auf der Tagesordnung stehen. Hier lebt nicht nur T.C. Boyle selbst, hier leben auch seine Protagonisten Ottilie und Frank, ein älteres Ehepaar. Frank ist Arzt und steht kurz vor seinem Ruhestand. Ottilie hat sich bereits zur Ruhe gesetzt und verbringt viel Zeit damit, ein umweltbewusstes, auf Nachhaltigkeit setzendes Leben zu führen. Unter anderem indem sie mit beeindruckender Konsequenz frittierte Heuschrecken als Fleischersatz auf den Speiseplan setzt und sich als Imkerin versucht. Angetrieben wird sie dabei von ihrem Sohn Cooper, einem Entomologen (Insektenforscher), der den Glauben an eine bessere Zukunft der Menschheit, so scheint es, längst aufgegeben hat.
Der zweite Schauplatz ist das von Überschwemmungen geplagte Florida. Hierhin hat es Cat verschlagen, die Tochter von Ottilie und Frank. Sie bewohnt ein Haus direkt am Meer, das ihr Freund und künftiger Ehemann Todd von seinen Eltern geerbt hat. Todd ist Botschafter für Bacardi Rum und viel auf Partys und auf Reisen. Cat träumt von einer Zukunft als Influencerin. Um sich als solche ein markantes Profil zu geben, schafft sie sich spontan eine exotische Schlange an, einen Tigerpython, den sie sich für Selfies wie eine Stola um den Hals hängt; und als dieser Python nach kurzer Zeit aus seinem Terrarium entwischt, kauft sie sich gleich noch einen zweiten, einen größeren.
Damit fängt die Geschichte erst an. Der Kauf der Schlange setzt schnell eine Kette von unglücklichen, teils äußerst dramatischen Ereignissen in Gang, die an dieser Stelle aber nicht näher beschrieben werden sollen. Denn es würde dem Roman jene großartige Spannung nehmen, die ihn vor allem im ersten Teil auszeichnet. Man flitzt hier als Leser durch die Seiten, so ereignisreich und unterhaltsam geht es zu, und Boyle ist dabei so sarkastisch, wie vielleicht seit seinem ersten Roman Wassermusik nicht mehr.
Die Entscheidung Cats, sich in den Sozialen Medien als Schlangen-Lady zu inszenieren, nimmt jedenfalls kein gutes Ende (was bei Boyle nicht verwundern sollte), und auch auf der anderen Seite der USA, in Kalifornien, bei Ottilie, Frank und Cooper, läuft so einiges aus dem Ruder. Größere Feiern werden zu einem Wagnis und den Biss einer Zecke sollte man niemals auf die leichte Schulter nehmen. Aber wer ist Schuld an allem? Ist es allein das Wetter, das einfach nicht mehr so sein will wie früher?
Boyles Figuren sind sich den unheilvollen Veränderungen ihrer Zeit, unserer Zeit, durchaus bewusst, versuchen ihnen im Mikrokosmos ihres Alltags sogar entgegenzusteuern, vor allem Ottilie und Cooper. Aber soll man keine Hochzeiten mehr feiern? Nicht mehr nach Hongkong oder Florida fliegen, wenn der Arbeitgeber es fordert oder familiäre Notfälle einen dazu zwingen? Stehen wir nicht alle, die es mit dem Klimaschutz wenigstens halbwegs ernst meinen, vor solchen Fragen? Wärmepumpe, Urlaubsflieger, Grillfleisch?
»Blue Skies« bringt diese lähmende Stimmung, diese Mixtur aus Ignoranz, Sorglosigkeit, Zweifel, schlechtem Gewissen und die Ahnung, dass alles noch viel schlimmer wird, auf den Punkt, sehr anschaulich, höchst unterhaltsam und auf mehreren Ebenen, und zum Schluss gibt es – eher untypisch für Boyle – ein bisschen Hoffnung. Die stirbt bekanntlich zuletzt.
T.C. Boyle: Blue Skies
Hanser Verlag | 400 Seiten
Holger Reichard
5. März 2015
Er trug seinen Kampfanzug und hatte das Messer umgeschnallt. Die Stiefel waren schmutzig, und Gesicht und Kopfhaut waren gebräunt wie bei einem Rettungsschwimmer. Hinter ihm, in dem Flur, der zum Wohnzimmer führte, sah sie die dunklen Umrisse seines Rucksacks und den schmalen Schatten des Gewehrs, das an der Wand lehnte.
Der pensionierte Schuldirektor Stensen, kurz Sten, und seine Frau Carolee sind auf einem Kreuzfahrtschiff in der Karibik unterwegs. Sie haben in Puerto Limón in Costa Rica angelegt und brechen mit einer kleinen Reisegruppe auf ins Landesinnere, zu einer Naturwanderung. Am Ziel angekommen werden die Touristen von drei jungen Bandidos überfallen. Was die Ticos nicht wissen: Sten ist Vietnam-Veteran und trotz seines hohen Alters noch immer geübt im Nahkampf. Er nutzt einen Moment ihrer Unachtsamkeit und setzt sich zur Wehr – mehr oder weniger erfolgreich. Der Ausgang dieses Raubüberfalls ist jedenfalls dramatisch.
Erzählt ist damit lediglich der Prolog von T.C. Boyles neuem Roman »Hart auf hart«, der in diesen Tagen auf Deutsch erscheint und damit noch vor der amerikanischen Originalausgabe erhältlich ist. Fokussiert ist die Erzählung allerdings weniger auf Sten, sondern vielmehr auf seinen Sohn Adam, ein eigenbrötlerischer, wortkarger Psychopath, der zurückgezogen in einer einsamen Waldhütte lebt, Schlafmohn anbaut und sich in beängstigender Schizophrenie für eine moderne Ausgabe des legendären Trappers John Colter hält.
Als Anhalter lernt Adam die 40jährige und damit nicht unwesentlich ältere Sara Hovarty Jennings kennen. Sie ist im Gegensatz zu Adam äußerst redselig und durch eine freiberufliche Tätigkeit als Hufschmiedin halbwegs in der Gesellschaft verankert. Dennoch hadert auch sie – als Anhängerin der Sovereign Citizen Movement – mit den Realitäten des Lebens, sieht in staatlichen Institutionen ihren größten Feind und ist nach einer bewussten Missachtung der Gurtpflicht, eigentlich ein recht banales Vergehen, nur allzu bereit, diese Feindschaft offen und eskalierend auszutragen. Dass ihr ausgerechnet jetzt der kompromisslose Adam über den Weg läuft, kommt ihr nicht ungelegen. Hart und hart treffen aufeinander. Der Titel der deutschen Ausgabe ist Programm und bemerkenswert gut gewählt.
Man ahnt an dieser Stelle schon, wie sich die Geschichte fortsetzen wird, zumal T.C. Boyle ihr Schöpfer ist. Es ist kennzeichnend für seine Romane und Kurzgeschichten, dass er die Menschen sehenden Leserauges ins offene Messer laufen lässt, sie scheitern lässt, an sich selbst – und an der Natur. Letzteres, das Scheitern an der Natur, zieht sich wie ein roter Faden durch Boyles Gesamtwerk. Und so nimmt es auch hier kein gutes Ende, für keinen der beteiligten Akteure.
Nach der letzten Seite ist man beinahe froh darüber, dass es kam, wie es kommen musste. Denn anders als sonst in Boyles Romanen, gibt es dieses Mal – bis in den kleinsten Winkel der Geschichte hinein – nicht eine einzige Figur, die man in sein Herz schließen möchte. Zu destruktiv sind ihre Handlungen, zu dämlich ihre Ansichten, zu groß ihre Vorurteile.
Am schlimmsten aber ist: Boyle liegt damit hart an der Realität, nicht nur an der amerikanischen, sondern auch an der europäischen. Denn man hat sie beim Lesen des Buches unweigerlich vor Augen, die Attentäter auf Charlie Hebdo, die unzähligen Verschwörungstheoretiker in den Sozialen Medien, die xenophoben Wutbürger der Pegida-Bewegung. Sie alle spiegeln sich in Adam und Sara und in den Nebenfiguren der Geschichte auf erschreckende Weise wider.
Deshalb wäre es falsch, bei »Hart auf hart« von einem großen Lesespaß zu sprechen. Nein, das Buch macht keinen Spaß. Aber gute, lesens- und empfehlenswerte Bücher, und zu dieser Kategorie zählt Boyles neuer Roman, haben ja nicht nur die Aufgabe, einem Freude zu bereiten.
T.C. Boyle: Hart auf hart
Deutsch von Dirk van Gunsteren | Hanser 2015 | 400 Seiten
Holger Reichard
29. September 2006
Talk Talk, Ausdruck aus der Amerikanischen Gebärdensprache (ASL), in der Deutschen Gebärdensprache (DGS) »gebärden«, bedeutet ein entspanntes Gespräch unter Gehörlosen mittels Gebärden.
Der amerikanische Schriftsteller T.C. Boyle liebt das Wechselspiel. Hat er gerade einen Band mit Kurzgeschichten veröffentlicht, muss es danach wieder die Kunst des Romanschreibens sein, der er sich widmet. Hat er einen historischen Roman veröffentlicht, wie zuletzt über den amerikanischen Sexualforscher Alfred Kinsey, so wechselt er mit dem nächsten wieder in die Gegenwart oder in die Zukunft.
Sein neuestes Werk, »Talk Talk«, betrifft sowohl die Gegenwart als auch die Zukunft. Denn er thematisiert darin den Identitätsdiebstahl, ein aktuelles Problem, wenn man bedenkt, dass die US-Handelsaufsicht FTC im Jahre 2002 insgesamt 168.000 Anzeigen und 380.000 Beschwerden wegen Identitätsdiebstahl registrieren musste und dieses Vergehen damit als eine der am stärksten zunehmenden Kriminalitätsformen in hochtechnisierten Ländern gilt.
Nicht nur die polizeilichen Ermittler professionalisieren ihre Methoden, auch die Kriminellen. Hierzulande mit Kameras und Scannern manipulierte Geldautomaten markieren da sicher nur den Anfang einer Entwicklung, deren Höhepunkt noch lange nicht in Sicht ist.
Opfer in Boyles Geschichte ist die gehörlose Dana Halter, die eines hektischen Morgens ein Stoppschild überfährt. Die Folge: Eine Geldstrafe und vielleicht ein paar Punkte im Verkehrssünderregister? Viel schlimmer! Dana Halter findet sich in Untersuchungshaft wieder. Die Delikte, die ihr vorgeworfen werden, reichen von Autodiebstahl bis zu Drogenmissbrauch und Angriff mit einer tödlichen Waffe. Zu Unrecht. Denn es stellt sich heraus, dass jemand ihre Identität gestohlen hat.
Nach mehreren Tagen eines – nicht zuletzt wegen ihrer körperlichen Behinderung – erniedrigenden Gefängnisaufenthalts begibt sich Dana Halter zusammen mit ihrem Freund Bridger Martin auf die Suche nach der Person, die ihr das angetan hat, nach der Person, die mit ihrem Namen und auf ihre Kosten in Saus und Braus lebt. Es ist der Beginn einer bis zum Ende offenen Verfolgungsjagd.
Den Übeltäter stellt Boyle in seinem neuen Buch ebenfalls ausführlich vor. Er greift damit auf eine seiner bewährten Schreibtechniken zurück: das Schildern einer Geschichte aus verschiedenen Perspektiven.
Obwohl man nicht alle Handlungen von Dana Halter und ihrem Freund nachvollziehen kann oder Sympathien für ihren Gegenspieler entwickeln mag, fiebert man doch mit beiden Parteien mit. Denn Boyle knüpft in »Talk Talk« einen Spannungsbogen, der von der ersten bis zur letzten Seite reicht. Es ist sicher nicht sein gelungenstes Werk, wohl aber das temporeichste, das er bisher geschrieben hat.
T.C. Boyle: Talk Talk
Deutsch von Dirk van Gunsteren | Hanser 2006 | 396 Seiten
Holger Reichard