Sprintworkshop: eine agile Alternative zum klassischen Teamworkshop

Die sich ausbreitende Sensibilität für Agilität in Unternehmen eröffnet ein neues Spielfeld, in welchem Experimente gewagt werden dürfen. In diesem Blogbeitrag möchte ich das Format eines Sprintworkshops vorstellen, das aus einem solchen Experiment entstanden ist und mit dem ich in mehreren Projekten gute Erfahrungen gemacht habe.

Den ersten Prototypen entwickelte ich bereits vor einigen Jahren aus einer gewissen Frustration heraus: Eine Veranstaltung mit 50 hochrangigen Führungskräften zum Thema Agilität war in die Sackgasse geraten. Statt der Bearbeitung relevanter Themen hatten nur Scheindiskussionen stattgefunden, die jede tiefe Reflexion verhindert hatten. Eine Taktik des Dauerkommentars hatte jegliche Maßnahmenbildung unmöglich gemacht. Auch ein kontinuierliches Spiegeln der wirkenden destruktiven Muster in die Gruppe hinein hatte keine Effekte generiert. Irgendwie hatten wir es dann doch noch einigermaßen fertiggebracht, den Workshop zu einem Minimalziel zu bringen. Aber die Frustration war sowohl auf Seiten der Teilnehmenden als beim Moderator groß.

Gemeinsam mit einer mutigen Auftraggeberin kam ich im Nachgang zu dem Schluss, dass wir – um mit dieser Gruppe Wert und Wirksamkeit stiften zu können – im nächsten Workshop die Muster komplett brechen mussten. Aus dieser Erkenntnis heraus entwickelte ich das im Folgenden beschriebene Format eines Sprintworkshops. Dieses Format half nicht nur, die oben geschilderte Gruppe in eine produktive Diskussion relevanter Themen zu bringen und sie greifbare und greifende Maßnahmen entwickeln zu lassen; es bewährte sich auch in der Umsetzung mit mehreren anderen Großgruppen und in anderen Kontexten. Heute setze ich dieses Format vielfach ein, um agile Prinzipien in der konkreten Arbeit an drängenden und komplexen Themen erlebbar und wirksam zu machen.

Das Format versucht zum einen, die drei von Dan Pink prominent beschriebenen Hauptmotivatoren des Menschen anzutriggern: Es setzt auf Purpose, Autonomy und Mastery. Zum anderen nimmt es die Vorzüge einer Scrum- bzw. Sprintlogik in Dienst, kombiniert mit supervisorischen Rollen und kontinuierlichem Feedback. Es setzt dabei folgendes Framework:

1. Erstellung eines Themenbacklogs (90 min)
Die Teilnehmenden werden in kleine Teams von ca. sechs Personen aufgeteilt. Gemeinsam sammeln sie in einem ersten Schritt unter einer geeigneten Leitfrage die Herausforderungen bzw. Hürden der aktuellen Situation. Anschließend schreiben sie aus Perspektive entsprechender Stakeholder- bzw. Zielgruppen (mit Hilfe von Templates) User Stories zur Bearbeitung der jeweiligen Herausforderung bzw. Beseitigung der Hürde.

Im Falle eines Workshops mit Führungskräften könnten User Stories zum Beispiel wie folgt klingen:

  • »Als MitarbeiterIn möchte von meiner Führungskraft regelmäßig über die Ziele orientiert werden, damit ich für mich gut planen kann.«
  • »Als KollegIn möchte ich von anderen Führungskräften maximal unterstützt werden, um die mir zugeordneten komplexen Ziele wirklich erfüllen zu können.«
  • »Als Vorgesetzte(r) möchte ich von der mir unterstellten Führungskraft frühzeitig über Probleme informiert werden, damit ich mich sicher fühle.«

Alle aus der Diskussion abgeleiteten User Stories werden dann im Plenum vorgestellt. Im nächsten Schritt werden sie in eine priorisierte Reihenfolge gebracht. Hierzu bietet sich eine einfache Schwarmbewertung an: Jede(r) Teilnehmende erhält die gleiche Anzahl von Punkten und kann sie auf die User Stories verteilen. Letztere werden dann entsprechend der Punkte von oben nach unten im Themenbacklog sortiert.

2. Sprinteinheiten (je 90 min)
Ist das Themenbacklog fertiggestellt, geht es in den Sprintmodus. Die Teilnehmenden werden in cross-funktional/divers zusammengesetzte Sprintteams (fünf bis sieben Personen) aufgeteilt, deren Aufgabe es nun ist, die Backlogthemen von oben nach unten zu bearbeiten. Ziel ist es, aus den User Stories konkrete Maßnahmen abzuleiten und deren Umsetzung konzeptionell abzusichern.

2.1. Arbeitsphase (45 min)
In der Arbeitsphase jedes Sprints »zieht« sich jedes Sprintteam jeweils das oberste Thema und arbeitet an der Erstellung eines Maßnahmenprototyps, der auf einer Pinnwand präsentiert werden soll. Es hat sich hier bewährt, Canvas-Poster zur Verfügung zu stellen, die über Leitfragen einen groben Orientierungsrahmen setzen, von den Teams jedoch in selbstorganisierten Brainstorming-, Diskussions- und Ableitungsphasen unmoderiert befüllt werden. Ziel ist es, dass jedes Sprintteam den Maßnahmenprototyp an der Pinnwand jeweils so aufbereitet, dass er quasi selbsterklärend präsentiert werden kann. Befindet das Sprintteam eine User Story als zufriedenstellend in Maßnahmen übersetzt, »zieht« es sich die nächste, oberste User Story vom Backlog und startet sofort deren Bearbeitung. Zu Beginn jeder Arbeitsphase bestimmt jedes Sprintteam aus der eigenen Mitte einen stillen Beobachter. Dieser hat die Aufgabe, das Team in der Arbeitsphase supervisorisch zu beobachten, um später Feedback geben zu können.

2.2. Review-Marktplatz (15 min)
Nach der Arbeitsphase findet in Marktplatzlogik ein Review der Maßnahmenprotoypen statt. Hierzu bleibt jeweils ein Vertreter des Sprintteams als Repräsentant an der Pinnwand des Sprintteams stehen; die anderen schwärmen aus, um sich die Prototypen der anderen Sprintteams anzusehen bzw. vorstellen zu lassen und zum jeweiligen Arbeitsstand Feedback zu geben. Der Repräsentant des Sprintteams sammelt dieses Feedback, sodass sein Sprintteam den Maßnahmenprototypen im nächsten Sprint gegebenenfalls optimieren kann.

2.3. Sprintteam-Retrospektive (15 min)
Anschließend trifft sich jedes Sprintteam wieder im eigenen Kreis. Der Beobachter teilt der Gruppe innerhalb von fünf Minuten seine Beobachtungen mit, adressiert wahrgenommene Hürden und macht Verbesserungsvorschläge für den nächsten Sprint. In den nächsten fünf Minuten melden alle Sprintteammitglieder kurz zurück, wie sie die allgemeine Zusammenarbeit in der Arbeitsphase wahrgenommen haben. Die letzten fünf Minuten der Retrospektive werden dazu genutzt, dass sich die Sprintteammitglieder in einem 1:1-Dialog jeweils gegenseitig kurz rückmelden, wie sie den jeweils anderen in seinem Einzelverhalten in der Arbeitsphase wahrgenommen haben.

2.4. Pause (15 min)
Bevor der nächste Sprint beginnt, wird eine Pause eingelegt.

Der nächste Sprint läuft wie der erste ab. Hat das Sprintteam von den anderen Teilnehmenden die Rückmeldung erhalten, dass der Maßnahmenprototyp noch nicht zufriedenstellend ist, wird an diesem weitergearbeitet. Ist dieser von der Gesamtgruppe für gut befunden, holt sich das Sprintteam das nächste Thema. Es wählt einen neuen Beobachter aus und startet in die selbstorganisierte Themenbearbeitung…

3. Schlussplenum (60 min)
In einer letzten Runde werden die fertigen Maßnahmen noch einmal kurz vorgestellt und – so kein Veto geäußert wird – gemeinsam verabschiedet. Der Sprintworkshop endet mit einer finalen Feedbackrunde, in welcher individuelle Erfahrungen mit dem Format vergemeinschaftet und gegebenenfalls Schlussfolgerungen für eine folgende Veranstaltung gezogen werden.

Ein so gestalteter Sprintworkshop kann an einem Tag mit insgesamt vier Sprints bereits hohe Wirksamkeit erzielen. Werden anderthalb oder gar zwei Tage in diesem Format gestaltet, kann eine beachtliche Anzahl an Maßnahmen mit hoher Umsetzungswahrscheinlichkeit generiert werden. Je nach Zielgruppe, Themenfokus und Dauer des Workshops können die Maßnahmentemplates, Leitfragen und Sprintlängen individuell angepasst sowie Zwischenplena oder Gesamtretrospektiven eingezogen werden. Der vorgestellt Gesamtframework des Formats hat sich jedoch in dieser Form in mehreren Projekten als tragfähig und überaus produktiv erwiesen. Das Feedback der Teilnehmenden thematisiert immer wieder das eigene Erstaunen, wie zielfokussiert und produktiv das Format wirkt; gleichzeitig melden viele Teilnehmende zurück, dass sie aus dem eigenen Erleben von Sprintlogik, Retrospektiven und Feedback einen wertvollen Zugang zum Thema Agilität erhalten hätten.

Johannes Ries

Viele als Viele: Das Potenzial der multitude für Unternehmen (VUCA-Handling IV)

Die in diesem Blog bereits aus strategischer und organisationaler Perspektive beleuchtete VUCA-ness der Wirtschaftswelt beeinflusst auch die Formen der Teamzusammenarbeit im Unternehmen.

Aufgrund der hohen Komplexität in globalisierten Organisationen brechen die für das effektive Zusammenarbeiten notwendigen Einheiten immer weiter auf. Die Kolleginnen und Kollegen sind weltweit verstreut und für den Einzelnen vor Ort nicht mehr greifbar – man begegnet ihnen allenfalls virtuell. Auch vor Ort herrscht ein reges Kommen und Gehen bzw. An- und Abreisen. Durch das Taumeln aller zwischen dicht getakteten Terminen in überfüllten Kalendern erhöht sich sogar in lokal ansässigen Teams zunehmend die Volatilität.

Für meine Beraterkolleginnen und -kollegen und mich wird dieser Trend vor allem in Workshops spürbar – zum Beispiel in folgender Situation: Es ist kaum mehr möglich, alle Teilnehmenden für mehr als einen halben Tag gemeinsam in einem Raum zu halten. Einige kommen verspätet, da sie so stark durchgetaktet sind, dass eine kleine Irritation wie ein Stau oder ein verspäteter Zug ihren gesamten Tagesablauf zusammenbrechen lässt. Andere sind allein körperlich anwesend – ihr Geist befindet sich in der Tiefschlafphase, da ihre Heimatzeitzone mindestens einen Kontinent weiter westlich oder östlich liegt. Ständig verlassen Einzelne spontan den Raum, um einen wichtigen Telefonanruf anzunehmen. Andere haben sich bereits im vorhinein entschuldigt, die Veranstaltung »kurz« für eine Videokonferenz verlassen zu müssen. In jeder Pause werden die Laptops aufgeklappt und Emails beantwortet. Gegen Ende des Workshops brechen die ersten bereits vor der Verabschiedung auf, da sie ihren Flug erwischen müssen. Dem allen versucht nur der Workshop-Sponsor durch ein Pochen auf Disziplin oder das Hochhalten von Handy-Regeln entgegenzutreten. Oder aber er entscheidet sich zur Unterdrückung der aufsteigenden Aggressionsschübe und nimmt die Situation hin … Die Volatilität der Teilnehmenden ist in diesem Beispiel eine zentrale Herausforderung, mit der die Moderation zu kämpfen hat.

Es gibt eine hohe Dichte an Beratungsliteratur, wie man Teamarbeit in Meetings regelt, effizient und effektiv gestaltet. Meine Hypothese lautet jedoch: Die Volatilität der Teilnehmenden wird (wie auch die Komplexität der Organisation) trotzdem eher zu- als abnehmen. Zunehmende Disziplinierung wird die VUCA-Herausforderung der Teamarbeit nicht lösen, sondern wahrscheinlich eher verstärken. Ich möchte in diesem Beitrag einer anderen Spur folgen: Vielleicht lässt sich mit der Vergemeinschaftungsform der multitude unabhängig von Einheitlichkeit und Geschlossenheit ein erfolgreicheres Zusammenarbeiten in der VUCA-Situation realisieren.

Ich möchte dazu zunächst um fast 350 Jahre zurückspringen: Um 1670 publiziert der niederländische Optiker und Philosoph Baruch de Spinoza seine Gedanken über Ethik und politische Führung. Mit seinen Ideen zur Gedankenfreiheit und seiner historisch-kritischen Bibelanalyse macht er sich unbeliebt bei den etablierten Autoritäten. Unter anderem stößt sein Konzept der multitudo (lat: große Anzahl, Menge, Vielzahl) als wesentliche Trägerin der zivilen Freiheit nicht gerade auf breite Zustimmung. Als multitudo bezeichnet Spinoza eine Vielheit von Menschen, die niemals in der Einheit aufgeht. Dem Philosophen zufolge können sich Menschen zusammenschließen und gemeinsam handeln, ohne ihre Unterschiedlichkeit aufzugeben. Sie können in ihrer Vielfalt bestehen bleiben, ohne Zentrum oder Hierarchie aufbauen zu müssen. Durch affektive Hinwendung Einzelner zu gemeinsamen Themen und in der Immanenz der Situation kann eine multitudo handlungsfähig bleiben, ohne klar festgelegt und definiert zu sein. Spinoza ist dabei überzeugt, dass der Mensch (durch Rationalität befreit) grundsätzlich tolerant und selbstverständlich wohltätig agiert.

Etwa zeitgleich entwirft Thomas Hobbes, englischer Mathematiker, Staatstheoretiker und ebenfalls Philosoph, mit seinem Programm des aufgeklärten Absolutismus das exakte Gegenprogramm: Für ihn ist Spinozas multitudo mit allen Mitteln zu bekämpfen, da sie die Einheit des Staates gefährdet. Hobbes’ Gegenbegriff ist der des Volkes, das in einem gemeinsamen Willen geeint ist und mit einer gemeinsamen Haltung konzertiert agiert. Geschlossen bezieht sich das Volk auf eine gemeinsame Essenz und muss dem gleichen Ziel zustreben. Da der Mensch im Urzustand seinen Mitmenschen ein Wolf ist, muss er sich vor seiner eigenen Schlechtigkeit und der Boshaftigkeit der anderen schützen. Als Bürger schließt er sich daher mit allen anderen Mitbürgern zusammen und unterwirft sich aus Selbstschutz dem staatlichen Souverän. In einem großen Gesellschaftsvertrag wird dem Souverän – der über allen anderen steht – Entscheidungsgewalt und Richtspruch übertragen.

Mit Hobbes und Spinoza befinden sich damit bereits im 17. Jahrhundert zwei Diskurse des Zusammenlebens, -wirkens und damit auch -arbeitens im Widerstreit: homogene, transzendental fokussierte Einheit versus heterogene, immanent-situativ agierende Vielfalt. Die Zwischenfrage, ob Unternehmen heute eher nach Hobbes’ oder Spinozas Modell organisiert sind, dürfte sich von selbst beantworten. Nicht umsonst hatte auch der Streit damals einen eindeutigen Sieger: Die Politik gab Hobbes recht und Spinoza wurde als nicht ernst zu nehmend aus den Diskursen verbannt.

Seit kurzem bekommt sein Konzept in anglizierter Form jedoch wieder neuen Rückenwind –auch wenn es derzeit weiterhin allein in randständigen Gefilden rezipiert wird. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Hardt und die beiden italienischen Philosophen Antonio Negri und Paolo Virno sehen in der multitude eine wirksame Organisationsform im Ausnahmezustand unseres Wirtschaftssystems. Die mitunter recht radikal denkenden Kapitalismuskritiker definieren die multitude schlicht als »Singularitäten, die gemeinsam handeln«, als ein heterogenes Feld von Menschen, die nicht mit sich identisch sind, als »Viele als Viele«. Mit der multitude sehen Hardt, Negri und Virno die Möglichkeit einer souveränen Selbstorganisation, die in voller Diversität im allumfassenden Druck der Arbeits- und Wirtschaftswelt bestehen kann.

Hardt, Negri und Virno hatten mit ihren Ideen großen Einfluss auf die Occupy-Bewegung, die in den Jahren 2011 und 2012 ausgehend vom New Yorker Zuccotti (bzw. Liberty Plaza) Park für Monate Politik und Finanzwelt auf Trab hielt. Einer der größten Irritationspunkte für viele Politiker und Journalisten war die konstante Weigerung der Bewegung, sich ein Programm zu geben oder dauerhafte Führer oder Sprecher zu benennen. Occupy wurde mangelnde Zielrichtung vorgeworfen, jedoch behielt sich die Bewegung mit diesem Vorgehen ihren Charakter als multitude: sie verhinderte kontinuierlich ihre eigene Stabilisierung, erlaubte keinen eindeutigen Kontaktpunkt und feierte konsequent ihre Vielstimmigkeit. Was (extern) als VUCA erlebt wurde, war (intern) Motor und Energiespender für die sozial-politische Bewegung. Wie ein großer, globaler Flashmob agierte Occupy aus der Situation heraus mit der Energie derer, die sich freiwillig mit anderen für den Moment zusammenschlossen, um den eigenen, individuellen Zielen und Botschaften Ausdruck zu verleihen. Aus der immanenten Vielstimmigkeit heraus konnten Anstöße in den verschiedensten Feldern von Kunst, Kultur, Gesellschaft und nicht zuletzt auch Wirtschaft und Politik gegeben werden, ohne dabei auf ein, zwei Kernbotschaften reduziert zu werden.

Ich möchte hier weder für die Besetzung von Unternehmen plädieren, noch die Occupy-Bewegung für den Kapitalismus missbrauchen. Ich glaube jedoch, dass eine multitude-Orientierung in Unternehmen beides ermöglicht: Die von VUCA-ness torpedierte Zusammenarbeit im Unternehmen kann mit ihr effektiver und damit (wirtschaftlich) erfolgreicher gestaltet werden; gleichzeitig ermöglicht sie dem Menschen im Unternehmen ein souveräneres Agieren in (durch VUCA) zunehmend inhumaner erlebten Arbeitsbedingungen.

Wie könnte nun die multitude als Form der Zusammenarbeit im Unternehmen wirken? Die grundsätzliche Frage, die aus meiner Perspektive in diesem Zusammenhang zu stellen ist, lautet: Zwinge ich die Vielen in ihrer individuellen Situation in mein einheitliches Format der Zusammenarbeit? Oder gestalte ich das Format der Zusammenarbeit so, dass es die Vielen optimal mit ihrer individuellen Situation ausfüllen können? Bloße Anwesenheit von Menschen garantiert keinen Arbeitserfolg. Pflichtveranstaltungen sind meist wenig produktiv. Doch je mehr sich Mitarbeitende in einem freiwilligen Kontext befinden, desto höher sind Motivation, Engagement und die Qualität der Arbeitsergebnisse.

Seit einiger Zeit versuche ich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen sowie in Abstimmung mit experimentierfreudigen Kundenunternehmen Veranstaltungen so zu designen, dass die Teilnehmenden in ihr als multitude agieren können. Dazu greifen wir unter anderem auf bereits etablierte Formate wie Harris Owens Open Space oder neue Ideen aus der Stadtentwicklung zurück. Natürlich wird das jeweilige Design jeweils eng auf das Thema abgestimmt. Die am Bild der multitude orientierte Grundidee ist jedoch immer, die Teilnehmenden nicht mehr als Einheit zu begreifen, die in allen Punkten gemeinsam agiert, sondern Diversität hinsichtlich Persönlichkeiten und der Teilnahme an der Veranstaltung zuzulassen. Alle Verpflichtung wird auf ein Minimum zurückgefahren (reduzierte Push-Faktoren), dafür wird versucht, die Veranstaltung für Teilnehmende so attraktiv wie möglich zu machen (erhöhte Pull-Faktoren). Die Veranstaltung wird im Sinne einer Plattform konzipiert, an welche die Teilnehmenden andocken können. Die Moderation versucht, nur einen minimalen Rahmen vorzugeben, innerhalb dessen sich die Teilnehmenden selbst organisieren können und müssen. Volles Vertrauen wird auf die Emergenz gesetzt: auf die spontane Herausbildung neuer Qualitäten durch das Zusammenspiel einzelner Menschen.

Ein konkretes Beispiel soll zeigen, wie eine solche multitude-orientierte Zusammenarbeit dann aussehen kann: Im Zuge eines umfassenderen Organisationsentwicklungsprojekts war es nötig, das bisherige Konzept mit der internen Projektgruppe abzustimmen, deren Mitglieder aus verschiedenen Unternehmensfunktionen stammten. Gewöhnlich wäre dafür ein Workshop angesetzt worden, in welchem sich die Projektgruppe volle zwei Tage geschlossen abgestimmt hätte. Im Gegensatz dazu entschied sich die SYNNECTA-Projektgruppe (Marc C. Berger, Anja Kulik, Dr. Andreas Lindner, Thomas Meilinger, Michael Stiegler und ich) für ein alternatives multitude-Konzept: An zentraler Stelle wurde ein sogenanntes Open Office eingerichtet, in welchem der Status des Konzepts über Poster und andere Medien visualisiert ausgestellt war. Die Projektgruppenmitglieder wurden eingeladen, innerhalb der zwei Tagen zu einem ihnen angenehmen Zeitpunkt ins Open Office zu kommen, um ihre Perspektive auf das Konzept einzubringen. Kontinuierlich waren nur der interne Projektleiter und zwei Berater als Open Office-Team anwesend. Tatsächlich kamen alle Projektgruppenmitglieder innerhalb der zwei Tage und diskutierten engagiert und fokussiert den Projektstand. Dadurch, dass manche mehrmals kurz, andere nur einmal (dafür länger), wieder andere einen ganzen Tag blieben, fand die Diskussion in ständig neuen Konstellationen statt. In »Leerzeiten« arbeitete das Open Office-Team die Diskussionen auf, fokussierte das Erlebte und diskutierte das weitere Vorgehen mit den nächsten Teilnehmenden. Der Output dieses Open Office-Workshops stand dem eines konventionellen Workshops qualitativ in nichts nach. Gleichzeitig konnte jedoch auf Kundenseite eine Effizienzsteigerung erreicht werden: Die einzelnen Teilnehmenden waren zu jedem Zeitpunkt im Open Office konzentriert, da sie für sich selbst den richtigen Zeitpunkt für die Tätigkeit ausgewählt hatten. Gleichzeitig sparten sie Zeit und Kapazitäten ein, damit natürlich aus unternehmerischer Sicht Geld.

Mit einem solchen Format steigen jedoch enorm die Anforderungen an die Moderierenden: Gefordert sind als Reaktion auf die Volatilität ein hochgradig flexibles Reagieren auf die Situation und die jeweils gegenwärtige Zusammensetzung der Teilnehmenden. Um mit der Unvorhersagbarkeit des Verlaufs umgehen zu können, muss mit fuzzy visions gearbeitet und eine hohe Prozessoffenheit ausgehalten werden. Die Moderierenden müssen die sich ständig verändernde, komplexe Interaktion von bereits Agierenden und neu Hinzukommenden im Blick haben. Hierzu müssen sie noch mehr als früher fähig sein, empathisch, intuitiv und analytisch die Situation einschätzen und schnell entscheidend mit Interventionen reagieren zu können. Gleichzeitig sind eine erhöhte Methodenkompetenz und ein differenzierter Tool-Baukasten erforderlich. Die richtige Balance zwischen selbstbewusst Anziehen und vertrauend Loslassen, zwischen Herausfordern und Unterstützen muss gefunden und gehalten werden – dann ergibt sich der richtige, attraktiv wirkende Flow, in welchem die multitude ihr Potenzial der Vielen als Viele entfalten kann.

Mit diesem Beitrag fordere ich nicht, alle Teams im Unternehmen aufzulösen und die konventionelle Zusammenarbeit der Planung, Verbindlichkeit und Gemeinsamkeit aufzugeben! Nicht für alle Aufgaben oder Herausforderungen ist die multitude die adäquate Form der Zusammenarbeit. Gleichzeitig plädiere ich jedoch dafür, mit einem Fokus auf das Potenzial der multitude in Unternehmen sinnvolle, echte Frei-Räume zu öffnen und damit wertvolle Effizienzen zu heben. Wo Menschen in offener Bewegung als Viele agieren können, werden Emergenzen nutzbar. Vertraut man in diese und versucht auf der Welle des Flow zu surfen, so transformiert die multitude ihre eigene VUCA-ness von ganz allein in die Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit guter Ergebnisse.

Johannes Ries