Wuchernder Organismus statt starrer Maschine: Die VUCA-resiliente Organisation (VUCA-Handling III)
Macht Rhizom, nicht Wurzeln, pflanzt nichts an! (…)
Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! (…)
Seid schnell, auch im Stillstand! (…)
Lasst keinen General in euch aufkommen!
Diese Imperative formulieren 1980 der Psychiater Félix Guattari und der Philosoph Gilles Deleuze in ihrem kryptischen Mammutwerk Tausend Plateaus, das heute eines der wichtigsten Referenzwerke der zeitgenössischen Philosophie ist. Vor kurzem habe ich in diesem Blog das Konzept VUCA als derzeit verstärkt in die Diskussion kommende Beschreibung einer immer virulenter werdenden Belastung des Menschen im Unternehmen skizziert. In einem weiteren Beitrag habe ich versucht, mit einem Blick auf China einen alternativen Strategieansatz vorzustellen, der ein adäquateres VUCA-Handling darstellen könnte. In den folgenden Abschnitten möchte ich der Frage nachspüren, wie eine VUCA-resiliente Organisation aussehen könnte.
Die Philosophie kann – auch wenn sie von Zeitgenossen oft als weltfremd wahrgenommen wird – als Seismograph für die Zukunftsthemen der realen Welt gesehen werden. Als Avantgarde sucht die Philosophie heute vielfach (unbewusst) die Antworten auf die Herausforderungen der Unternehmenswelt von morgen. Dieser Hypothese folgend möchte ich überprüfen, welche Impulse das obige Zitat von 1980 für ein erfolgreicheres VUCA-Handling heute haben könnte.
Deleuze und Guattari nutzen eine botanische Analogie, um zwei verschiedene Denkhaltungen und Organisationsformen zu unterscheiden: Wurzel versus Rhizom.
Die Wurzel: Eine dem Wurzeldenken verpflichtete Organisationsform bildet stets eine klare Struktur und Hierarchie aus. Sie hat ein Zentrum und ist auf Dauer ausgelegt. Ihr Wachstum geschieht vertikal: Wie beim Baum alle Wurzelstränge in einem zentralen Stamm zusammenlaufen, sind in der Wurzelorganisation alle Funktionslinien auf die oberste Führung hin ausgerichtet. Ein Wurzelsystem ist nicht teilbar, da jeder Wurzelstrang zum Überleben des anderen notwendig ist. Wer einen Baum an einer bestimmten Stelle kappt, tötet damit alle verbundenen Verästelungen – im schlimmsten Fall sogar den gesamten Baum. Analog dazu können einzelne Teile einer Wurzelorganisation nicht unabhängig von der Zentrale und den anderen Funktionen existieren. Das Wurzeldenken ist stets auf den originalen Ursprung, das stabile Sein, den beständigen Zustand und die eigene Einheit fokussiert.
Dem entgegen setzen Deleuze und Guattari eine andere botanische Lebensform, die weniger bekannt ist:
Das Rhizom: Rhizome sind Gewächse mit einem sogenannten Sprossachsensystem. Im Gegensatz zu den meisten anderen Pflanzen, bei welchen Wurzel, Spross und Früchte eindeutig differenzierbar sind, bilden sich Rhizome als Wurzelstengelwerke aus, in welchen Trieb und Wurzel ununterscheidbar sind. Bekannte Rhizompflanzen sind z.B. Bambus, Ingwer oder Giersch. Sie vermehren sich vegetativ und damit schnell und leicht: Unter der Oberfläche wuchern sie weitflächig – an einer völlig unerwarteten Stelle bricht dann plötzlich ein Schössling hervor. Eine rhizomatisch orientierte Organisation fokussiert sich entsprechend auf das weitläufige Beziehungsgefüge und Netzwerk all ihrer Mitglieder. Sie hat kein Zentrum – auch weil sie immer nur für den Moment und in der Situation stabil ist. Ein organisatorisches Rhizom ist ständig im Wandel, baut sich laufend um und neu auf, wuchert enorm schnell und horizontal. Da es aus singulären Teilchen besteht, die sich ständig in veränderten Konstellationen neu verknüpfen können, kann man ein Rhizom jederzeit an beliebiger Stelle kappen – es reagiert auf den Schnitt umgehend und bildet sich zu einer weiterhin überlebensfähigen Struktur um. Rhizomorganisationen fokussieren sich auf ihr Potenzial, begreifen sich selbst im konstanten Wandel, konzentrieren sich auf das Tun und Werden und feiern ihre Vielfalt und Heterogenität.
Was hat das mit unserer Wirtschaftswelt im aufgeladenen VUCA-Ausnahmezustand zu tun? Schon länger plädieren Organisationsethnologie und Unternehmenskulturforschung dafür, neben der offiziellen Unternehmensstruktur, -hierarchie und -prozesslandschaft auch die impliziten Spielregeln informellen Landkarten der Unternehmenskultur mit in den Blick zu nehmen. Diese werden meist informell gebildet, etwa im old-boys-network, im Klatsch an der Kaffeemaschine, beim Lästern vor dem Kopierer, in den Gesprächen während der Zigarettenpause oder in den Tischgemeinschaften der Kantinen. Hier wirkt dann das verborgene Rhizom der Unternehmenskultur, das nicht selten mit der offiziellen Wurzelhierarchie im Widerstreit liegt. Die Organisationsethnologie wirbt für das Potenzial, welches durch eine öffentliche und bewusste Diskussion der unbewusst wirkenden, impliziten Rhizomregeln von Organisationen entfaltet werden kann.
Vor dem Hintergrund der VUCA-Diskussion kann man jedoch noch einen Schritt weiter gehen mit folgender Hypothese: Mit ihrem Bild des Rhizoms stellten Deleuze und Guattari bereits vor mehr als 30 Jahren eine Denkhaltung und Organisationsphilosophie bereit, mit der sich besser auf Volatilität, Unsicherheit, Complexität und Ambiguität reagieren lässt. Da Rhizome per se kontinuierlich im Wandel sind, können sie sich weit besser anpassen als Wurzeln. Sie können damit höhere Agilität beweisen. Ein rhizomatisches Beziehungsgeflecht denkt grundsätzlich interaktiv und nutzt Schwarmintelligenz – es kann seine eigene Heterogenität und Komplexität damit zum eigenen Vorteil nutzen. Netzwerke kommunizieren stets rhizomartig: Botschaften wuchern in ihnen in einer Geschwindigkeit, die in Hierarchien nie erreicht werden kann. Eine solche virale Kommunikation kann sich als schneller, effektiver und reaktionsfähiger erweisen, als diejenige, die die »offiziellen« Kanäle nutzt. Ein rhizomatisch orientierter Organismus, der in sich Vielfältigkeit birgt und bewahrt, reagiert wesentlich toleranter und souveräner gegenüber Ambiguität, als eine geschlossene, homogene Einheit, die nur einen Weg kennt …
Mit dem Rhizomgedanken lässt sich Organisation als lebendiger Organismus denken. Dies entspricht exakt den Plädoyers der derzeit erscheinenden neuen Ansätze der unternehmensorientierten Organisationsentwicklung:
Connected Company: Dave Gray stellt 2012 die Divided Company und die Connected Company gegenüber: Erstere ist durch Hierarchie, Arbeitsteilung, Spezialisierung, Stabilität und Vorhersehbarkeit in stabilen Umfeldern charakterisiert. Letztere zeichnet sich durch Holarchie (ganzheitliche Eigenständigkeit der Teile), fraktalen Arbeitseinheiten, Autonomie, Flexibilität und Adaptivität an unsichere Umwelten aus. Die Connected Company besteht aus einer serviceorientierten Plattform, von der aus sogenannte Pods nicht gesteuert, sondern in ihren unabhängigen (aber vernetzten) Aktionen mit Fokus auf den Kunden optimal unterstützt werden.
Communities: Jörg und Rüdiger Müngersdorff plädieren ebenfalls 2012 dafür, das Potenzial der Communities, die jenseits der Kästchen und Linien der Organigramme jede Organisation wild »durchwegen«,für Organisationsentwicklung und Change Management zu nutzen. Hierzu macht es Sinn, die bridgepeople der Organisation zusammenzuschließen. Damit werden die Netzwerkbroker bezeichnet, die gut vernetzt Zugang in mehrere Communities haben, in welchen einer Lagerfeuergemeinschaft gleich über Geschichten kommuniziert wird.
Beta-Organisation: Niels Pfläging nennt seinen Entwurf einer Organisation, die mit Komplexität umgehen kann, Beta-Organisation (2013). Während sich »alte« Alpha-Unternehmen auf Abhängigkeiten, Abteilungen, Management, Pflichterfüllung, Maximierung, Anreizung, Planung, Bürokratie, Status, Macht und Anweisung verlassen, fokussiert sich eine Beta-Organisation auf Sinnkopplung, Zellen, Führung, Ergebniskultur, Passgenauigkeit, relative Ziele, Teilhabe, Vorbereitung, Konsequenz, Zweck, Intelligenz und Marktdynamik.
Light Footprint Organization: Vor kurzem hat auch Charles-Edouard Bouées die Light Footprint Organization skizziert (2013). Damit diese sich optimal an ihr sich schnell veränderndes Umfeld und die Fluidität der Ereignisse anpassen kann, muss sie sich modular aufbauen als lose Allianz von weitgehend autonomen, multidisziplinären Teams. Bouée plädiert dabei für mehr Dezentralisierung, Pragmatismus, Opportunismus und Offenheit für Experimente. Gut ausgebildete und optimal ausgestattete kleine und agilen Team, die unter dem Paradigma der Reziprozität intensiv kooperieren, sieht er als Erfolgsgaranten für Unternehmen, die auch zukünftig in der VUCA-Welt bestehen können.
Dual Operating System: Auch John Kotter macht sich in seinem erst einige Tage altem Buch XLR8 (Accelerate, 2014) Gedanken darüber, wie Organisationen der kontinuierlichen Beschleunigung der VUCA-Situation standhalten können. Auch er entwirft ein Dual Operating System, welches neben sichernder, stabiler und verlässlicher Hierarchie auf die Geschwindigkeit, Anpassungsfähigkeit und Innovationskraft von Netzwerken in Unternehmen setzt. Kotter verspricht sich von gut vernetzten Change Agents eine stärkere Veränderungsbereitschaft und Adaptionsfähigkeit von Unternehmen.
Diese fünf Beispiele aus dem aktuellen Organisationsentwicklungsdiskurs zeigen, welches Potenzial die Philosophie (und neben ihr wohl andere Avantgarde-Randdisziplinen wie etwa zeitgenössische Kunst) für ein erfolgreiches VUCA-Handling bereithalten dürften. In den Unternehmenskontext übersetzt dürfte das eingangs aufgeführte Zitat von Deleuze und Guattari (wohl unter Zustimmung der aufgeführten Organisationsentwickler) lauten:
»Netzwerk-Interaktion, Diversität, Agilität sowie die Reduktion autoritärer Strukturen und Mindsets sind die wichtigsten Schlüssel zur VUCA-resilienten Organisation!«
Johannes Ries