Ein kleiner Neujahrsgruß: 2021 – Schon wieder ein neues Veränderungsprojekt

Wie jedes Jahr werden zum Jahreswechsel die ehrgeizigen persönlichen Veränderungsprozesse gestartet und mit Manifesten der guten Vorsätze und Ziele untermauert.

Und wie bei so vielen Veränderungsprozessen in Unternehmen, die nie den angestrebten Zielzustand erreichen, lösen sich auch die hehren Ziele der Neujahrsvorsätze schnell in Luft auf. Nur ca. 9% werden tatsächlich erfolgreich und nachhaltig umgesetzt. Eine bescheidene Erfolgsquote fürwahr! Und was braucht es, wenn wir es ernst meinen und nicht einfach in Champagnerlaune ein paar Sehnsüchte als Vorsätze verkünden?

Ein sehr konkretes Ziel wäre hilfreich, gerne eingebettet in einen Traum. Der Traum von der schlanken, sportlichen Version unserer Selbst ist verlockend und konkrete verbindliche Schritte führen dorthin. Der bloße Vorsatz (bzw. meistens ist es nur ein Wunsch, »Ich will abnehmen und mich mehr bewegen«) wird kaum zum Ziel führen. »Wir wollen ein agiles Unternehmen werden« übrigens ebenso wenig. Welche Begründung, welcher Traum und welche konkreten Ziele sind daran gebunden? Wie kann ich konkret Selbstverantwortung fördern, schädliche Nebenwirkung hierarchischer Führung eliminieren, wie eine »angstfreie« Organisation erreichen, in der Engagement und Kreativität blüht?

Das Bild meiner sportlichen, schlanken Version kann ein attraktives Zielbild sein, und 3 x die Woche 20 Minuten joggen oder 10 Liegestütze jeden Morgen vor dem Duschen, 3 Liter Wasser am Tag trinken und das Gewicht einmal die Woche wiegen, um ein festes Gewichtsziel zu einem fixierten Zeitpunkt zu erreichen, können uns schon eher in Richtung unseres Traums und unserer konkreten Ziele führen. Die Ziele sollten wohl besser nicht zu groß gesetzt werden, im besten Falle SMART (Spezifisch, Messbar, Attraktiv, Realistisch, Terminiert).

Auf dem Weg der Veränderung kommt sehr schnell die umgekehrte Proportionalität von Motivation und Disziplin ins Spiel. Ist meine Motivation sehr hoch, was meistens in der schwungvollen Anfangsphase der Fall ist, dann brauche ich wenig Disziplin, aber wehe, wenn die Motivation nachlässt, was entweder nach den ersten Rückschlägen oder zu leichten Erfolgen geschieht, dann kann nur Willenskraft und Disziplin helfen.

Da unser Leben zu mehr als 80% aus dem Unbewussten/Unterbewusstsein bestimmt wird und der Einfachheit halber aus Routinen und Gewohnheiten besteht, braucht es schon eine hohe Aufmerksamkeit, ein waches Bewusstsein, um gewohntes Verhalten zu verändern. Bei gleichen Situationsbedingungen werden wir unser Verhalten wiederholen, das gelernte Programm abrufen. Das heißt auch, dass wenn ich in einer Hierarchie sozialisiert wurde, der Appell zu Selbstverantwortung ins Leere gehen wird. Die kleinsten hierarchischen Trigger werden mich sofort zu gelerntem Verhalten verführen, das ja auch im alten System belohnt wurde.

Warum es so schwer ist, gewohntes Verhalten zu verändern, hat neben der Disposition aus den Programmen des Unterbewusstseins psychologische und neurologische Gründe.

Psychologische, weil das Gehirn grundsätzlich keine großen Veränderungen will, da dies aus der archaischen Prägung Gefahr bedeuten könnte. Große Veränderungen widersprechen daher grundsätzlich dem Selbsterhaltungstrieb des Menschen. Und der Widerstand wird umso größer, je größer die Veränderung empfunden wird. Eine reale, aber auch schon eine empfundene oder befürchtete Veränderung löst diesen Widerstand aus. Eine große Herausforderung für jede Initialkommunikation am Beginn eines Veränderungsprozesses.

Neurologische Gründe, weil noch keine neuronalen Pfade im Gehirn für das neue Verhalten angelegt sind. Sie bilden sich erst durch konsequente Wiederholung von Handlungen und entwickeln sich bildlich mit der Zeit von kleinen Trampelpfaden zu Wegen, Straßen bis hin zu Autobahnen. Und eine neue Gewohnheit ist erst nach ca. 60 Tagen entstanden!

Veränderungsprozesse und Neujahrsvorsätze haben sehr ähnliche Erfolgskriterien.

Es braucht eine bewusste Entscheidung für die Veränderung, eine glaubwürdige Begründung und ein attraktives Zukunftsbild. Es hilft mir für den Neujahrsvorsatz sehr, wenn ich ihn transparent mache und in meinem Umfeld kommuniziere. So erhalte ich Unterstützung und Ermunterung. Dass eine Change Vision im Unternehmen kommuniziert werden sollte, ist selbstverständlich. Sie wird jedoch noch überzeugender, wenn sie bereits gemeinsam geformt wurde und viele Menschen aus allen Regionen, Funktionen und Ebenen (so es sie noch gibt) beteiligt waren.

Welche Geschichten können wir erzählen, um das Zukunftsbild auch emotional zu vermitteln und attraktiv werden zu lassen? Wenn sich die Selbstbeschreibung ändert, die Antworten auf die Fragen »Wer sind wir?« und »Wie wollen wir sein?«, dann ist bereits viel erreicht. Wenn das individuelle Verhalten allerdings in den gewohnten Routinen abläuft oder durch »Trigger« im alten Belohnungssystem verharrt, wird auch die große Veränderungsgeschichte stecken bleiben. Intensiver Dialog und Achtsamkeit, wohlwollende Feedback-Partnerschaften und Belohnungssysteme für selbstgewähltes neues Verhalten unterstützen den Erfolg.

Wenn das Narrativ und das individuelle Verhalten zusammenfinden, bekommt die Veränderung Kraft und Dynamik.

Wir wünschen viel Erfolg beim Verwirklichen der Neujahrsvorsätze 2021 und den spannenden Veränderungsprozessen in der neuen Wassermann-Zeit! Der Weg zum Himmel ist mit erfüllten Vorsätzen gepflastert!

Jörg Müngersdorff

Wo steht die SYNNECTA in der Dynamik neuer Arbeits- und Unternehmensentwürfe?

Ein Anfang

Wir haben viel zu sagen.
Viel über: New Organization, New Work, New Mindset.

Vor fünf Jahren hätten wir das, was wir zu sagen haben, auch noch in einem Vortrag konzis sagen können – das können wir heute nicht mehr. Es ist zu facettenreich, es ist zu differenziert. So greifen wir Aspekte heraus, die uns in unseren internen Diskussionen und in Gesprächen mit Kunden beschäftigen.

Wir erleben, neben viel Beständigem, Umbrüche, Experimente, Ausbrüche, Neues – und das auf allen Ebenen, in den Organisationen als neue Formen der Organisation, in Gruppen als neue Dynamik der sozialen Vergemeinschaftung, bei einzelnen Menschen mit neuen, nicht dem Karrieremainstream gehorchenden Lebensentwürfen.

Was treibt da eigentlich?

Vordergründig treibt die Unternehmen vielleicht die Angst, Anschluss zu verlieren, Anschluss an die chinesische Dynamik – vielleicht –, vielleicht treibt der Vertrauensverlust in die europäische Erfolgsgeschichte: der systematischen Planung, des Managen von Projekten, der doch einmal so erfolgreichen Wasserfallplanung, vielleicht der Zweifel an der Voraussagekraft der strategischen Abteilungen? Vielleicht die Konfrontation mit dem Zweifel vieler an der Qualität der Führung? Möglicherweise der so breite Vertrauensverlust in die »Eliten«? Vielleicht aber auch, weil es unübersehbar ist, dass wir nun mehr und mehr mit unlinear dynamisch deterministischen Systemen konfrontiert sind: in den Märkten, im Wettbewerb, in der Gesellschaft, in der Gemeinschaft unseres eigenen Unternehmens, und wir doch so sehr daran gearbeitet haben, die Welt linear dynamisch deterministisch zu gestalten. Wir können noch so oft »Warum« fragen, wir werden nicht die Ursache finden –, aber wir finden Bedingungen, Bedingtheiten, Relationen.

Für NEW WORK sticht da eine Bedingung hervor, eine gesellschaftliche, eine globale Tendenz, die sich seit sehr langer Zeit stabil durchsetzt: Der Gewinn von mehr und mehr individueller Freiheit. Wir erleben es deutlich in den Metropolregionen – dort, wo die soziale Kontrolle minimiert ist und es Raum für viele Nischen, für viel Andersheit gibt, eine Andersheit, die sich als Gruppe und Gruppenzugehörigkeit organisieren kann.

Es geht um Eigenbestimmtheit, um die je eigene Individualität und ihre gesellschaftliche Anerkennung, es geht, um ein altes Konzept zu nutzen, um Selbstverwirklichung. In den gerade gängigen Motivationstheorien wird es mit den Begriffen Autonomie und Lernen (Wachsen) benannt und mit der Idee, dass wir Purpose-geleitet sind. Dies ist heute ein elementarer Aspekt einer Unternehmenskultur. Mit der Orientierung an Purpose, der die Prozesse der Visions- oder Missionsbildung ersetzt, wird auch das Anstrengende, das Herausfordernde deutlich – wie können wir das Eigene mit dem Gemeinsamen in eine Balance bringen, die sich durch eine gewisse Beständigkeit auszeichnet? Wie kann der je eigene Purpose zu einem gemeinsamen werden und wie beständig kann dies sein? Im Hintergrund die Frage nach dem Verhältnis von Solidarität zu individueller Selbstheit. Individualität und die Qualität der Vergemeinschaftung gehören zusammen und sie machen die neuen Arbeitsformen so interessant, so aufregend und zugleich so herausfordernd. Denn wir sind dabei, auf den großen versorgenden Bruder zu verzichten.

Und natürlich ist die Freiheit vieler, die gelebte Diversität der Vielen, ein Treiber von Komplexität, und im Zulassen dieser Vielheit, der Eigenheiten erleben wir auch den Verlust der einen bindenden moralischen, der Sicherheit gebenden Institution. Die wird ja nicht nur politisch, sondern auch in den Unternehmen gerade eingefordert – leider nicht nach vorne schauend, sondern mit einer wachsenden Sehnsucht nach alter Autorität, um im psychoanalytischen Bild zu sprechen, nach dem alles richtenden Vater. New Work geht den anderen Weg – New Work will die Freiheit gestalten, so dass dennoch Zusammenarbeit und Gemeinschaft möglich sind.

So lassen sie uns Aspekte nachzeichnen, Aspekte, denen wir in unserer Arbeit begegnen und bei denen es keine einfachen Rezepte gibt.

Die agile Organisation – im Kern die Suche nach einer Organisation, die in der Lage ist sich schnell anzupassen, in der Innenorientierung reduziert wird und in der es möglich wird, in kleineren Einheiten eine Außenperspektive intern wirksam zu machen. Zygmunt Bauman nannte dies schon vor Jahrzehnten eine fluide Organisation. Die Blueprints liegen vor – die soziale und psychologische Dynamik solcher Unternehmen lassen jedoch noch viele Themen offen.

Was können wir beobachten – neben den trivialen Themen, dass solche Veränderungen nicht von allen gemocht werden, dass sich Skepsis breitmacht, dass Herren der Beständigkeit (es sind meistens Herren) um Machtverlust fürchten:

Flucht in die Methode

Methoden sind hilfreich und notwendig – aber sie sind bestenfalls die Hälfte der Reise. Wir stehen etwas verwundert vor der Gründlichkeit, mit der das methodische Set mehr und mehr ausformuliert wird und mehr und mehr der kleinteiligen Prozesslandschaft ähnelt, die man ja grade mit der neuen Organisation zumindest vermindern wollte. Beschriebene Methoden geben Sicherheit, sie entlasten das Individuum der Eigengestaltung und sind oft eine Flucht vor der Freiheit. Um die geht es aber, will man Flexibilität, den Reichtum der Vielstimmigkeit erreichen. Sie sind zu oft eine Flucht vor der Chance der Selbstwirksamkeit und der mit ihrer kommenden Verantwortung.

Der Mangel an gruppendynamischer Kompetenz

Was geschieht, wenn wir Hierarchie einebnen und die Rolle so beschreiben, dass sie mehr ein Enabler für Eigenverantwortung wird. Tatsächlich fehlt uns das Verständnis gruppendynamischer und sozialdynamischer Prozesse. Es wird mit dem Konzept Empathie gewunken, aber das, in sich selbst schon schwierig, greift zu kurz, wenn wir Menschen in der Gestaltung informeller, also emotional nicht entlastender, sozialer Führungsprozesse alleinlassen. Es wird Zeit gruppendynamische Kompetenz wieder einzuüben. Informelle Führung öffnet ein weites Feld für Egomanen und Narzissten und wir kennen die verheerenden Folgen des Bullying im Schulkontext. Gruppendynamik als Erfahrungslernen tut not.

Wir wollen Deine Seele, Dein Herz

Dies wird umso mehr wichtig, je mehr wir beginnen das Arbeits- und das Privatleben nicht mehr zu trennen. Wir verschmelzen zwei bisher trennbare Identitäten. Und wir tun es, weil wir verstanden haben, dass wir in den neuen Organisationen den ganzen Menschen brauchen und nicht nur die Zeit, die er uns zur Verfügung stellt. Der alte Deal war klar: Du bekommst Geld und Sicherheit (die berühmte goldene Uhr später) und du gibst uns deine vereinbart begrenzte Zeit, deinen Gehorsam und deine Loyalität. Wenn wir an die motivierende Kraft eines Purpose glauben, also daran, dass ein Mensch sich mit seiner ganzen Existenz für etwas einsetzt, weil sein tiefer eigener Sinn und der der Arbeit mehr und mehr übereinstimmen, dann geht der alte Deal nicht mehr. Ich kann das Herz, die Seele eines Menschen nicht kaufen – das Unternehmen muss mehr bieten – Orte, Räume, Plätze, Beziehungen, soziale Strukturen, sinnstiftende Konzepte, die es Menschen ermöglichen, sich ganz einzubringen. Und eben die Freiheit, die Angebote anzunehmen, für eine Zeit, die Freiheit, sie auch wieder zu verlassen – in der längeren Perspektive werden Unternehmensgrenzen fließend werden. Und so wird die Attraktivität als »Lebensplatz« immer wichtiger.

Die Endlichkeit von Purpose

Purpose kommt oft sehr gravitätisch daher – mit so einem Hauch von Ewigkeit. Aber das ist eine Verengung. Wir folgen nicht dem einen Sinn in unserem Leben, den wir irgendwie auf dieser Lebensreise entdecken müssen. Unsere Energie, das Engagement finden viele »Sinne« und sie suchen sich soziale Zusammenhänge, in denen sie gelebt werden können. Sie sind leitend für eine Zeit, dann verlassen wir sie für etwas, was nun in dieser Lebensphase, in diesem sozialen Zusammenhang uns mehr berührt. Hier findet man die zweite Bedeutungsebene von Zygmunt Baumans Begriff der fluiden Organisation – auch wir fließen in unserer Organisation, aber auch zunehmend zwischen den Organisationen und immer mehr auch zwischen unterschiedlichen Lebenskonzepten. Unternehmen stehen vor der Aufgabe, immer wieder und immer neu einladende Orte, Strukturen zu schaffen, die ein Sinnangebot in sich tragen und so fähig sind, die Sinnsucher anzuziehen. Wir werden lernen müssen, das Fließende selbst als Stabiles zu erleben.

Der psychologische Fokus

Für uns, in unserer Arbeitstradition, kommt dem psychologischen Fokus, also der Verfasstheit des Menschen in diesen Veränderungen, große Bedeutung zu. Wie lernen Menschen ihre Rollen, ihre Möglichkeiten in den neuen Formen kennen, wie geben wir ihnen eine Chance, sich im Neuen auch selbst in bisher verschlossenen Möglichkeiten neu zu erfinden? Hierzu bedarf es z.B. tiefer Eingriffe in die selten thematisierten normativen Grundannahmen eines Coachings oder der Führungstrainings. Wenn wir lateral arbeiten und eher laterale Möglichkeiten erkunden, dann lassen wir den bisher dominanten vertikalen Aspekt, den Organisationen heute primär als Karriere anbieten, hinter uns. Karriere, bisher an Aufstieg als Hoffnung und als Schmerz gekoppelt, wird anders definiert – mehr und mehr als die Fähigkeit immer wieder Orte der Attraktivität zu finden, selbst sich als fluid zu begreifen. Da stoßen Unternehmen allerdings recht schnell an die Grenzen der Gesellschaft, die ja immer noch den Helden des Aufstiegs feiert.

Wie lernen wir?

Schließlich stellt sich die Frage, auf welche Lebenskonzepte hin wir denn Menschen bilden. Mehr denn je wird Gregory Batesons Unterscheidung vom Lernen erster Ordnung und Lernen zweiter Ordnung bedeutsam. Wir werden mit einem PISA-orientiertem Ansatz kaum weiterkommen, denn das trainiert und lehrt, was sich bewährt hat, bewährt in einer alten und stabilen Welt. Lernen für das Neue, das, was wir noch nicht eingeübt haben, das bedarf einer Öffnung zu dem Teil unserer Gesellschaft, den wir mit den Worten Kunst gerne etwas ausgrenzen und als ein Ort der Glückseligen beschreiben. Aber gerade dort kann man mehr über die Zukunft lernen, als in jeder Strategie- oder Marketingabteilung der großen Konzerne und Beratungen. Lange bevor Unternehmen das nennen konnten, was sie heute VUCA nennen, hat die Kunst uns mit einer performativen Wendung gezeigt, was Ereignis bedeutet, was Brüche bedeuten und was es heißt, fluid agieren zu können. Aber unsere derzeitigen Führungseliten sind recht kunstavers geworden.

Das Glück der Andersheit

Für uns rückt zudem in den Vordergrund, was unter dem Stichwort Diversität abgehandelt wird. Es geht hier um mehr als Statistiken, in denen man zeigt, man habe ja Vielfalt … Frauenquoten, Inderquoten, LGBTIQ*Quoten und so weiter. Wie lernen wir tatsächlich Respekt voreinander, wie lernen wir über Differenzen so zu sprechen und zu handeln, dass sie eher Reichtum als Ausschluss bedeuten. Es wird keine wirkliche Agilität geben, ohne sich mit der Diversität auseinanderzusetzen. Und das beginnt bei den kleineren Unterschieden, über die in der alten Arbeitswelt (Trennung von Privat und Beruf) eben nicht gesprochen wurde, und die im Verschweigen oder der fehlenden Plattform für den Ausdruck erhebliche Energien zurückhalten. In meiner Arbeit in den in sich vielfältig unterschiedlichen asiatischen Kulturen weiß ich, dass wir nun wirklich etwas erreicht haben, wenn die Menschen sagen, »du hast mein Herz berührt« und wenn sie mein Herz berührt haben. Dann beginnen wir voreinander und so miteinander Respekt zu haben.

Das Zauberwort – Mindset Change

Klingt ja einfach. Aber um was geht es denn? Es gibt dafür viele Beschreibungen. Z.B. von inside–outside thinking and acting zu outside–inside thinking and acting. Oder vom Gefangensein in der Inbox zur Öffnung zur Outbox, oder in dem Wortspiel ist es dein Ziel to come forward or to come along. Wie immer es genannt wird, es geht darum, aus der Perspektive der Egozentrik, des Egos auszusteigen. Nicht wirklich weltbewegend neu, jedoch wichtig, weil in der Wirtschaft und den Wirtschaftswissenschaften zu lange der Egomaximizer im Zentrum stand. Die Egomaximizer in ihrem Wettkampf um immer geringer werdende Ressourcen wurden als der Garant von Dynamik gesehen – die kooperierenden Mitglieder der Gemeinschaft eher als die etwas dummen Mitglieder der Herde. Ein sehr verkürzter Darwinismus, bei dem schon früh klar war, dass der wirkliche Egoist eben keiner ist, sondern jemand der kooperiert und darin und dadurch erfolgreich ist. Dafür gab es früher einmal in der christlichen Welt das Wort vom Geben ist seliger denn nehmen. Kooperation ist hier nicht eine weitere Methode oder, nach buddhistischen Selbstoptimierungskonzepten, ein neuer Trick des Egoismus, sondern die Selbsterfahrung, dass in einem sich selbst einklammernden Ich die Freude, die Erfüllung, das Glück von Kooperation gefunden werden kann. So kann das, was Kooperation oder heute gerne auch Kollaboration genannt wird, die tiefe Struktur des eigenen Denkens und Fühlens verändern, in der wir der Welt begegnen. Und dies eben ermöglicht, über Differenzen, Abgrenzungen, Zugehörigkeiten hinweg Gemeinsames zu gestalten.

Gegenseitigkeit

Ich erinnere mich gerne an Gespräche mit Helm Stierlin, einer der Gründerväter der systemischen Therapie, der Kooperation als Gegenseitigkeit verstand. Nicht im Sinne eines Deals, sondern eher als Gabe, in der ein Verhältnis begründet wird, das dem anderen Freiheit ermöglicht. Hier scheint ein Widerspruch zur These des Individualismus aufzutreten – denn in den neuen Arbeitsformen ist das Kollektiv der Held.

Nun leben wir unseren Individualismus in Kollektiven, in Gruppen, in denen wir uns in unserem Sosein aufgehoben fühlen, und die wir je nach Identitätsverlauf auch wechseln. In der Gegenseitigkeit der Kooperation bleibe ich in meiner Individualität gewahrt und bin zugleich Teil eines für das Ganze verantwortliche Kollektiv. Dies ist die Stelle, an der in die Diskussion um den mindset, der so abstrakt, neutral klingt, eine spirituelle Note eindringt. Es ist die Idee der Allverbundenheit, die wiederum der Erfahrung, dass wir in einer nicht linear dynamisch deterministischen Welt leben, sehr entspricht.

Organisationen doch oder endlich politisch denken?

Und mit all dem, was wir heute schon tun, greifen wir zu kurz, wenn wir nicht tiefer in die Art und Weise eingreifen, in der in Unternehmen heute Zukunft verhandelt wird (Zukunft heißt hier, Markt, Produkt, Prozess, Strategie usw.) Wenn wir die Grundidee der Agilität, die Fähigkeit schnell und flexibel auf Änderungen reagieren zu können oder auch iterativ vorausschauend agieren zu können, nur in den operativen Einheiten verankern, dann werden wir weiter langsam bleiben und eher das tun, was in der Vergangenheit erfolgreich war. Wenn wir die oligarchische Struktur der Unternehmen, wo eine mehr oder weniger homogene Gruppe, die über lange Zeit in großen Programmen eingenordet worden ist und dabei Süden, Westen und Osten vergessen hat, über die Themen der Organisation bestimmen lassen, dann wird New Work keinen Platz in den Unternehmen finden.

Es stellt sich an die Organisationsentwicklung die Frage: Wer darf sprechen, wer wird gehört, wer hat Orte um zu sprechen und um sich Gehör zu verschaffen. Es geht um einen genuinen Diskursprozess, an dem die vielen Unterschiedlichen Teil haben an den Entscheidungen, die festlegen, was im Unternehmen und was in den Märkten geschehen soll. Gesellschaftlich wird es kaum eine Teilhabe an den Besitzverhältnissen sein, aber eine echte Teilhabe an der Gestaltung der Gemeinschaft, die das Unternehmen mit engagiertem Einsatz gestaltet. Wir haben mit unseren Durchwegungskozepten leicht gangbare Wege aufgezeigt, um das Oligarchische der Unternehmen aufzubrechen und so Stimmen Raum verschafft, die sehr viel eher als die lang gedienten Führungsmenschen verstehen, was denn Zukunft bedeuten wird und wo der Platz sein kann, den das Unternehmen in dieser Zukunft mit seinen Leistungen einnehmen kann.

Und zum Ende etwas nach vorne greifend – wie verändern wir unsere innere Einstellung zu dem, was als Neues in den Lebenskonzepten auf uns zukommt? Wie verstehen wir sie? Ein Ausflug in die Pop-Welt einer Generation, die noch gar keinen Buchstaben hat.

Demographie – wie radikal sind die Veränderungen in den Lebensentwürfen?

BTS – eine koreanische Boy-Band (Nr. 1 in den US Billboard Charts als erste koreanische Band mit »Idol«): Eine vollständig inszenierte Boy Group – jede Information, jede Äußerung, jede Bewegung ist choreographiert oder kuratiert. Zugleich die einzige K-Pop Band, die politische Botschaften sendet – stark auf Individualismus bezogene Kernbotschaft: Sei du selbst, was immer Du auch bist oder sein willst. Die Videos senden neben dem Identifikationsangebot – die Gruppen bestehen immer aus einem Angebotsmix von Personen (würde die Besetzungsstrategien für Vorstände deutlich ändern) – eine inklusive Botschaft – Du bist ein Teil von uns – wir sind divers und du gehörst zu uns. Die Videos werden auch beschrieben als Repräsentanten einer hyperinklusiven Ästhetik. Es gibt in den Performances nicht mehr die Differenz zwischen Oberfläche (der Performance) und den eigentlichen Identitäten – die Oberfläche ist das Ganze. So ist Beuys in der Jugendkultur angekommen.

Unser tiefes Denken – es gibt den Vordergrund und den Hintergrund, es gibt die Erscheinung und dahinter das Eigentliche, der tiefsitzende Platonismus wird hier ausgehebelt; die Frage, was denn dahinter sein wird, obsolet, weil die Oberfläche das Eigentliche schon ist.

Was heißt das für die Arbeitswelt? Auflösung der Differenz von Privat und Arbeit? Das Ende der Rollenspiele und damit eine neue Art der Authentizität? Orte der Arbeit als Lebensorte, an denen Identität gebildet, gelebt wird? Orte der Arbeit als Ereignisräume – die in schnelleren Schnitten durchlaufen werden – die Schwächung der Kontinuitäten zugunsten der Bruchlinien und Lebenssprünge? Auch das sind Aspekte von New Work.

Ein Blick in Coaching-Erfahrungen der letzten Zeit. Auf welcher Folie von Lebensentwürfen formuliere ich meine Fragen? Wie sehr ist das ganze Setting von den Alt-Erwartungen der Unternehmen geprägt? Michelle Obama schreibt in ihrer Autobiographie über ihren Großvater, in dem sie die Bitterkeit zerstörter Träume sah. Einer Bitterkeit, der ich im mittleren Management großer Unternehmen immer wieder begegne. Während diese Bitterkeit im Hintergrund von Organisationen spürbar ist, ist die junge Welt von der Kraft der Träume bewegt. Lassen sie uns der Hoffnung folgen und nicht der Bitterkeit.

 


 

Anhang: Geschichten zum Vortrag

I.
Die Gruppe schwieg, sie schwieg länger als eine Stunde. Sie war traumatisiert. Dabei war es ein so guter Start – hierarchiefreies Arbeiten, Arbeiten in kleinen Gruppen mit gemeinsamem Interesse, tun können, was man immer schon wollte. Dann kamen die Einschläge – zuerst das Einstellen von Projekten, die in der Gruppe weiterhin als sehr aussichtsreich erlebt wurden, aber nun aus strategischen Gründen kein Budget mehr hatten. Wie Abschied nehmen? Und wie damit umgehen, dass man nun auch selbst umgesteuert wurde und sich in Projekten und Gruppen fand, die man ohne Not nicht gewählt hätte. Dann nahm die Gruppendynamik ihren Lauf – informelle Führer bildetet sich heraus, die zwar über gute soziale Manipulationsskills verfügten, aber nicht wirklich geeignet waren, die Aufgabe einer steuernden Funktion auszuüben, und dann der Wunsch der Organisation, es wirklich hierarchiefrei zu machen, und die Einführung einer Peerbewertung. Das Letzte war dann definitiv zu viel – so schwieg die Gruppe und hatte all die Energie, das Engagement des Anfangs verloren.

II.
Aus einem Gespräch mit einem Betriebsrat. Er war wirklich besorgt. Er blickte in den Raum und sah, dass all die ergonomischen Errungenschaften der organisierten Arbeitnehmerschaft verloren waren. Mitarbeiter saßen auf Holzpaletten, die Tische, die es vereinzelt gab, völlig ungeeignet – und er sagte, wie wird deren Rücken wohl aussehen, wenn sie zwanzig Jahre lang gearbeitet haben? Die jungen Menschen haben sich von uns gelöst, sie verstehen nicht mehr, dass im Gegeneinander von Unternehmen und Betriebsrat für sie um die bessere Lösung gestritten wird. Sie liefern sich ganz den oberen Herren aus.

III.
Aus einem Coaching. Ich traf diesen sehr begabten Menschen, als er noch Teamleiter war und vom CEO erfahren hatte, dass er über alle Hierarchiestufen hinweg in den Vorstand der für die Zukunft wichtigsten Division berufen war. In dem ersten Treffen sprachen wir viel über Theater und vor allem Literatur – wir verglichen unsere Leseerfahrungen, es war ein zartes und sehr energiereiches Gespräch. Nach einem Jahr sprach ich mit ihm, der immer noch feurig und energetisch war, über seine Leseerfahrungen der letzten Monate. Und er erbleichte, weil ihm auffiel, er hatte nur noch Managementratgeber gelesen und in seinem Reflektieren verstand er, dass seine tiefste Quelle für »Leadership« nicht aus den Ratgebern stammte, sondern aus den tiefen Schichten literarischer Erfahrungen. Er liest jetzt wieder.

IV.
Ein völlig ratloser Manager. In seinem Führungsbereich hat er eine sehr begabte Frau, die viel mehr tut, erfolgreich tut, als sie müsste und was ihrer Position entspräche. So kämpfte er in seiner Fürsorge und in seinem Gerechtigkeitsempfinden um eine Beförderung und konnte sie dann stolz der jungen Frau anbieten. Er erwartete Freude und Dankbarkeit, doch er erhielt ein freundliches, doch bestimmtes Nein – sie wollte es nicht. Und er fragte nach der Begründung: Und sie sagte, was ich jetzt tue, tue ich freiwillig und es macht mir Spaß, wenn ich dein Angebot annehme, dann muss ich es tun und das will ich nicht.

V.
Ein anderes Gespräch mit einem Boten, der einem das im Internet ausgesuchte Essen eines Restaurants vorbeibringt. Ich sagte, du weißt, dass du dich ausnutzen lässt? Du bekommst wenig Geld, nur wenn du dich zeitlich ganz auf die Bedürfnisse deines Unternehmens einlässt, das keinerlei Fürsorgepflicht dir gegenüber hat, bekommst du gute Schichten, und selbst den Kasten auf deinem Rücken hast du selbst bezahlst, das Fahrrad ist dein eigenes – warum tust du das? Aber ich bin frei sagte er und das war alles.

VI.
Ein letztes: Eine Expat Führungskraft in Thailand. Sie mokiert sich über diese Magiegläubigkeit der Thais, lacht über ihre Gaben in den Tempeln und dieses tägliche Verehren eines Schreins. Er ist aufgeklärt, hypermodern, rational. Der Abend ist lang, und nach dem sich zu Ende neigen des rituellen Berauschungsprozesses (es waren vor allem Cocktails) erzählte er von seinen großartigen Erfahrungen mit positiven Affirmationen. Er hatte einen Dienstleister (früher nannte man sie Priester) gefunden, der ihm gegen kleines Geld jeden Morgen einen positiv affirmierenden Satz zusandte und den er dann vor sich hinsagte. Es sei sehr wirksam, sagte er, und war sich der Ironie der Situation nicht bewusst.

VII.
Es ist nun 30 Jahre her. Ich sprach mit einer Franziskanerin in einem Krankenhaus, sie schob Bücherwagen durch die Zimmer und sprach mit den Kranken – wobei das Sprechen wohl das wichtigste war. Wir unterhielten uns und so erfuhr ich, dass diese Frau, die nun in der untersten Hierarchiereihe der Franziskaner stand, noch vor einem Jahr in Rom war und dort Äbtissin des gesamten Frauenordens. Und es war keinerlei Bitterkeit in ihr zu spüren. Sie war glücklich und fröhlich. Es gibt sie schon lange, die andere Besetzung der Hierarchieposten.

Rüdiger Müngersdorff

Furcht und Vertrauen

In jedem Veränderungsprozess, welcher Art auch immer, mag es eine Krise sein oder eine große Chance, gibt es zwei Faktoren, die für den Prozess von entscheidender Bedeutung sind. Furcht und Vertrauen. Es gibt im Leben keine Sicherheit, es gibt sie nie und noch viel deutlicher spürbar gibt es keine Sicherheit in einem Prozess, dessen erste Eigenschaft die der Veränderung ist.

Unsicherheit aber löst Angst aus, Unsicherheit über das, was uns erwartet, bedeutet mögliche Gefahr und die Möglichkeit von Gefahr ist der Grundauslöser aller Angst. Die Angst vor Ungewissem beinhaltet Erwartungsangst, die Angst vor der Angst – eben jene Angst, die wie kaum etwas anderes den Menschen lähmt, ihn blind macht. Chronische Erwartungsangst und Angst im Übermaß verhindert einen klaren Blick auf die Wirklichkeit und verpasst somit die Erkenntnis des Möglichen, sie verhindert Lernen, Flexibilität und Entwicklung – überlebensnotwendige Fähigkeiten, um Krisen zu überstehen.

Wie Sie mit Furcht und Angst umgehen, mit Ihrer eigenen und denen Ihrer Kollegen und Mitarbeiter, wie Sie Ihr Verhältnis zu Zuversicht und Hoffnung beeinflussen, wird maßgeblich darüber entscheiden, ob dieser Prozess erfolgreich verläuft. Wie also können Führungskräfte in einer Situation handeln, die von Unsicherheit geprägt ist? Wie können Sie Furcht reduzieren und Vertrauen herstellen und dafür sorgen, dass Sie und Ihre Mitarbeiter angesichts möglicher Gefahren und Bedrohungen nicht in lähmende Angst verfallen? Wer diesen Fragen Raum gibt und versucht, darauf eine Antwort zu finden, wird jede Krise bewältigen können.

Realangst: In Veränderungsprozessen liegen konkrete Bedrohungen für alle Beteiligten. Es kann der Arbeitsplatzverlust sein, ein Statusverlust, eine Zunahme an Arbeitsaufwand, die Furcht, nicht zu genügen. In jedem Veränderungsprozess gibt es Gewinner und Verlierer. Diese Ängste sind real oder werden als real empfunden und entsprechen möglichen Wirklichkeitsszenarien. Sie sind konkret und zielgerichtet.

Diffuse Angst: Diffuse Angstzustände brauchen kein konkretes Objekt der Angst. Es sind Grundängste, die im Wesen der menschlichen Existenz begründet liegen und die je nach persönlicher Lebensgeschichte unterschiedlich ausgeprägt sind und sich an individuellen Auslösern manifestieren.

Auf beide Formen der Angst können Führungskräfte positiv Einfluss nehmen. Als Grundängste des Menschen werden beschrieben:

  • die Angst vor Veränderung – erlebt als Vergänglichkeit und Unsicherheit
  • die Angst vor Endgültigkeit – erlebt als Unfreiheit
  • die Angst vor Nähe – erlebt als Abhängigkeit
  • die Angst vor Selbstwerdung – erlebt als Isolierung, mangelnde Geborgenheit

Vermeidungsverhalten bei Angst

  • Vermeidung: Man weicht Situationen und Personen aus, die Angst auslösen.
  • Bagatellisierung: Die wird Angst klein geredet, Symptome heruntergespielt.
  • Verdrängung: Man lenkt sich von der Angst ab, betäubt sie und gibt sich selbst schonende Erklärungen dafür.
  • Leugnung: Angst wird vollständig ausgeblendet. Sie hat keinen Platz im Spektrum der eigenen Empfindungen.
  • Übertreibung: Überzogene Sicherheitsvorkehrungen und deren zwanghafte Wiederholung sollen die Angst reduzieren.
  • Generalisierung: Die eigenen Ängste werden als Norm angesehen.
  • Heroisierung: Wer die Angst aushalten kann, ist stark. Man ist ein Held.

Diese Handlungsstrategien sind kurzfristig dazu geeignet, Angst zu reduzieren. Alle führen jedoch dazu, dass ein klarer, situationsangemessener und zielführender Umgang mit der bedrohlichen Situation nicht möglich ist. Die Ressourcen zu einem konstruktiven Umgang mit der Krise können nicht genutzt werden. Inhaltlich wird somit die Chance auf eine Lösung der Krise verspielt. Langfristig führt das Vermeidungsverhalten auf der persönlichen Ebene dazu, dass das Angstniveau steigt und sich, wenn die Vermeidungsstrategien zunehmend versagen, soziale, psychische und körperliche Krankheitssymptome einstellen.

Psychische Störungen tragen in der EU mit mehr als 26 Prozent zur Krankheitsstatistik bei – mehr als Herzerkrankungen oder Krebs. Dabei tragen Angststörungen und Depressionen den maßgeblichen Anteil. 14 Prozent der Gesamtbevölkerung Europas erkranken an Angststörungen!

Damit ist die Angst, neben dem persönlichen Leid und dem Verlust an kreativer und produktiver Arbeitskraft in den einzelnen Unternehmen, ein enormer gesamtwirtschaftlicher Faktor. Jede vierte Krankschreibung und jeder 12. Ausfalltag gehen in Deutschland inzwischen auf psychische Erkrankungen zurück, so zeigen Statistiken des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen. Der Anteil dieser Störungen an den Krankheitstagen hat sich seit Beginn der neunziger Jahre mehr als verdoppelt.

Früher trat man in ein Unternehmen ein, mit der Gewissheit dort irgendwann die goldene Uhr zum 25. Dienstjubiläum überreicht zu bekommen. Inzwischen hat man donnerstags noch das Gefühl, alles sei in Ordnung – und am Montag wird der eigene Geschäftsbereich geschlossen. Als Angstauslöser gelten auch betriebliche Umstrukturierungen, bei denen die Persönlichkeit und die Anforderungen des Jobs in ein Missverhältnis geraten, wenn zum Beispiel ein gewissenhafter und zahlenorientierter Buchhalter plötzlich als Servicekraft Kunden beraten soll. Die Tatsache, dass in der modernen Gesellschaft im Grunde alle Beziehungen unter Trennungsvorbehalt stehen, trägt zu einem Gefühl der Verunsicherung deutlich bei.

Was also tun?

1. Anerkennung

  • Der erste Ansatzpunkt zu einem angemessenen Umgang von Führungskräften mit den in einer Veränderungssituation aktiven Ängsten ist, sie anzuerkennen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um konkrete oder diffuse Ängste handelt, ob die Ängste realistisch oder unrealistisch sind.
  • Wenn Sie dabei für sich selbst in der Lage sind, grundsätzlich eigene Angstanteile in Ihrem eigenen Leben zu erkennen, wird es Ihnen leichter fallen, mit den Ängsten anderer umzugehen. Wenn Sie Ihre eigenen Ängste anerkennen, dann brauchen Sie nicht mit Abwehr reagieren, wenn Sie mit Angst konfrontiert werden.

2. Angstreduktion
Vertrauen ist jene Emotion, die der Angst gegenüber liegt. Es gibt zwei Arten von Vertrauen, die beide miteinander zusammenhängen:

  • Vertrauen in sich selbst und in seine Fähigkeiten und
  • Vertrauen zu anderen Menschen

Angst klopfte an. Vertrauen öffnete. Niemand war draußen. (Aus China)

In einer angstauslösenden Veränderungssituation innerhalb eines Unternehmens werden sich die Mitarbeiter auf die Führungskräfte beziehen. Als Führungskraft gilt es also, dazu beizutragen, dass

  • Ihre Mitarbeiter Ihnen Vertrauen entgegenbringen
  • Sie Situationen und ein Klima schaffen, in dem Ihre Mitarbeiter sich selbst und ihren Fähigkeiten besser vertrauen können (Selbstwirksamkeit).

Aus der Kinderpsychologie ist bekannt, welche Erfahrungen es sind, die bei einem Kind dazu führen, dass ihr absolutes Vertrauen in sich und in die Umwelt enttäuscht wird. Diese Formen der Enttäuschung reduzieren auch bei Erwachsenen das Vertrauen in sich und ihre Umgebung, z.B. ihr Unternehmen:

I. Vertrauen in die Führung sinkt, wenn:

  • das Gefühl entsteht, allein gelassen zu werden – wenn niemand da ist, wenn Hilfe benötigt wird
  • wenn Vorgesetzte etwas ankündigen und es nicht einhalten
  • wenn Vorgesetzte scheinbar grundlos und beliebig handeln, insbesondere bei negativen Sanktionen
  • wenn Vorgesetzte ihre Launen am Mitarbeiter auslassen
  • Wenn es keine Kontinuität im Verhalten der Führungsebene gibt. Das heißt, ohne eine klare und funktionierende Führungskoalition werden Ihre Mitarbeiter Ihnen nicht vertrauen.

II. Vertrauen in sich selbst und in die eigenen Fähigkeiten sinkt, wenn:

  • chronisch zu hohe Anforderungen gestellt werden, sodass Mitarbeiter immer wieder erleben, etwas nicht zu schaffen
  • sehr viel mehr kritisiert wird als dass Wertschätzung vermittelt wird
  • Mitarbeiter sich einer Situation hilflos ausgeliefert fühlen
  • Vorgesetzte überbehüten und kontrollieren, den Mitarbeitern keinen Raum für eigenen Erfahrungen lassen
  • und sie sich nicht als lernend, selbstwirksam und selbständig erleben können
  • nicht zwischen Selbstunsicherheit und Situationsunsicherheit unterschieden wird
  • Vorgesetzte oder Mitarbeiter den Anspruch haben, fehlerfrei sein zu müssen.

Vertrauen in sich selbst und in die eigenen Fähigkeiten steigt bei:

Erlebnissen von Selbstwirksamkeit
Wann immer Menschen sich als selbstwirksam erleben, als Handelnde, deren Tun einen Unterschied macht, steigt das Vertrauen in sie selbst. Dies gilt im am stärksten bei erfolgreicher Bewältigung einer schwierigen Situation. Werden diese Erfolge dann zudem der eigenen Person zugeschrieben, steigt die Selbstwirksamkeitserwartung am meisten – man traut sich auch in Zukunft schwierige Situationen zu und zeigt bei einzelnen Misserfolgen eine höhere Frustrationstoleranz.

Stellvertretenden Erfahrungen
Meistern andere Menschen eine schwierige Aufgabe oder trauen sie sich zu, dann traut man sie sich selbst auch eher zu. Je größer die Ähnlichkeit und die Nähe zur beobachteten Person, desto stärker die Beeinflussung durch das Vorbild.

Verbaler Ermutigung
Menschen, denen mit Zuversicht und Wohlwollen begegnet wird und denen von anderen zugetraut wird, eine bestimmte Situation zu meistern, glauben mehr an sich, als wenn andere an ihren Fähigkeiten zweifeln. Zugleich ist es wichtig, nicht unrealistisch zu fordern.

Emotionsregulation
Menschen, die ihr Erregungsniveau selbst beeinflussen (durch z.B. Atemtechniken, diszipliniertes Denken und Eigenreflektion, Sport zur Abfuhr körperlicher Erregung, und vieles mehr), haben mehr Vertrauen zu sich und ihrer Selbstwirksamkeit, da sie erleben, dass sie ihren eigenen Gefühlen und Erregungszuständen nicht hilflos ausgeliefert sind.

Es gilt also: Es gibt viele Gründe, Angst zu haben. Wenn die Ängste anerkannt und nicht vermieden werden, bleibt die Handlungsfähigkeit erhalten und Menschen können Krisen bewältigen. Und gesund bleiben. Es gibt keine Sicherheit. Aber Zuversicht.

Angst und Freude sind Vergrößerungsgläser. (Jeremias Gotthelf)

Rüdiger Müngersdorff, Katja Schröder