27. Juni 2023
Wir haben schon zu einer Zeit über die Hoffnung als Führungshaltung geschrieben*, als es vielen noch als etwas Esoterisches erschien. Ausgehend von dem so einflussreichen Satz des Paulus im ersten Brief an die Korinther:
»Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen«
… haben wir die Hoffnung als das Vermögen beschrieben, an der Möglichkeit der Realisierung von etwas festzuhalten, auch wenn vieles, ja scheinbar alles dagegen spricht. Hoffnung spricht von der Zukunft nicht als einer Form des Wunschdenkens, sondern als die Kraft, auch dann an das Werden des Guten zu glauben, wenn die Gegenwart die Zukunft eher als dunkel aufscheinen lässt.
In unserer Zeit, in der sich eine Stimmung der Depression, des Verzagens breitmacht und der Blick in die Zukunft nurmehr durch den Dunst des Versagens und der Verzweiflung möglich zu sein scheint, wird die Haltung der Hoffnung und so des Vertrauens in die Möglichkeit des Gelingens äußerst wichtig. Führung heißt in einer solchen, apokalyptisch gestimmten Lage, hoffend eine gelingende Zukunft zu antizipieren und sich für ihre Verwirklichung gezielt und mit Zuversicht einzusetzen.
Das führt uns, auf Führungshaltungen blickend, zu einer unterschätzten Führungseigenschaft: der Bewahrung einer kindlichen Naivität. Damit ist nicht ein grundloser, oft narzisstischer (kindischer) Optimismus gemeint, der sich der Realität nicht stellen will, sondern die Haltung an der Möglichkeit des »Besser« festzuhalten und aus der Hoffnung die Kraft zu ziehen, auf die Realität so einzuwirken, dass die Chancen der Ermöglichung größer werden. Wie Anmut, die Grazie im Auftreten und Sprechen eine oft unterschätzte Führungstugend ist, so ist es die Naivität. Sie ermöglicht es uns ein »Noch Nicht« in ein »Jetzt Da« zu verwandeln.
Sich diese Naivität angesichts der vielen unvermeidlichen Enttäuschungen und Misserfolgserlebnisse in einer Karriere zu erhalten, ist keine kleine Leistung, und der psychologische Term der Frustrationstoleranz beschreibt den Erhalt dieser hoffenden Naivität nur sehr eingeschränkt. Hoffnung führt uns näher an das, was einem Leben als Einzelnem und als Gemeinschaft Sinn zu geben vermag. In diesem Sinne trägt uns Hoffnung durch die Gegenwart und lässt uns handeln und gestalten.
Hoffen ist kein Wunschdenken. Es ist die Fähigkeit zum Zukunftsdenken, eingebettet in die Zuversicht, dass ein Handeln möglich ist.
In den gängigen Führungstrainings wird man eine Beschäftigung mit diesen tief in die Persönlichkeit reichenden Haltungen selten finden – dafür sind sie zu sehr auf schnelle Tricks und Tipps fokussiert. Verstehen wir allerdings die Not, Hoffnungslosigkeit in Hoffnung zu wandeln, damit es zumindest die Chance eines »Besser« gibt, dann wäre es an der Zeit, sich dem Thema Zukunft mit einer hoffenden Haltung zu nähern.
Rüdiger Müngersdorff
* SYNNECTA Sophia 2017: Glaube, Liebe Hoffnung – Im Schatten der Organisation (Rüdiger Müngersdorff)
5. Juni 2017
Nach dem Erfolg seines Bestsellers »Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit« wurde der israelische Historiker Yuval Noah Harari in Interviews immer wieder gefragt, wie es denn nun um die Zukunft der Menschheit bestellt sei. Aus seinen Antworten ist als eine Art Fortsetzung von »Sapiens« sein neuestes Buch entstanden: »Homo Deus. A Brief History of Tomorrow« (auf Deutsch 2017 erschienen unter dem Titel »Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen« im C. H. Beck Verlag, übersetzt von Andreas Wirthensohn).
In der Tat knüpft »Homo Deus« dort an, wo »Sapiens« aufhörte: Die Menschheit hat die drei größten Probleme, mit denen sie bis ins 20. Jahrhundert am meisten kämpfte, weitgehend im Griff. Kommt es heute zu Kriegen, Hungersnöten oder Epidemien, sind sie nicht von unbeeinflussbaren Faktoren wie etwa Wetterschwankungen ausgelöst, sondern sie beruhen auf menschlichem Versagen und hätten vermieden werden können. Diese These scheint gewagt, aber Harari untermauert sie gekonnt mit seiner gewohnt stichhaltigen, absolut klaren und zugänglichen Argumentationsweise.
Doch er wäre nicht Harari, wenn er nicht wie in »Sapiens« eher die Schattenseiten dieser scheinbaren Erfolgsgeschichte betonte. Entsprechend düster, aber erschreckend überzeugend ist das Zukunftsszenario, das er entwickelt: Befreit von der Notwendigkeit, sich ständig mit Krieg, Hunger und Epidemien herumschlagen zu müssen, stecken die Menschen ihre ganze Kreativität in technischen Fortschritt und die Suche nach dem ewigen Leben. Das führt dazu, dass es möglich wird, Menschen biologisch upzugraden, etwa durch Körperteile und Organe, die länger halten, besser arbeiten oder mehr können. Schon am Ende von »Sapiens« hatte Harari angedeutet, dass der Mensch durch die Schaffung künstlicher Intelligenz die seit Millionen von Jahren geltenden Regeln des Evolutionsprozesses außer Kraft setzt.
Solche evolutionsüberspringende Upgrades werden sich aber nur die Reichen leisten können, die sich dadurch immer weiter vom Rest der Menschheit entfernen. Dieser Rest wird gleichzeitig durch den technischen Fortschritt ziemlich überflüssig: Computer werden Menschen nicht nur in den meisten Bereichen als Arbeitskräfte ersetzen, sondern zum Beispiel auch als Soldaten. Die Masse der Menschen wird also sowohl für Arbeitgeber als auch für Machthaber entbehrlich, da sie weder als Arbeitskräfte noch als Soldaten oder als Wähler gebraucht werden.
Entsprechend gering wird das Interesse der Reichen und Mächtigen sein, diese Überflüssigen am technischen Fortschritt zu beteiligen. Möchte man nun darüber spekulieren, wie das Verhältnis zwischen Reich und Arm aussehen wird, überlegt Harari, muss man sich nur ansehen, wie weiter entwickelte Aliens in Science-Fiction-Filmen mit der Menschheit umspringen – oder Menschen mit Tieren.
Wie schon in »Sapiens« gelingt es Harari, den Leser dazu zu bringen, Dinge zu hinterfragen, die man sonst als selbstverständlich hinnimmt. Mit den Wörtern human und Humanismus etwa verbinden die meisten etwas Positives. Sie beinhalten aber auch, dass nicht-menschliche Lebensformen zu Lebewesen zweiter Klasse degradiert werden. Harari zeichnet die Entstehungsgeschichte des Humanismus nach und zeigt, auf welchen philosophischen und biologischen Annahmen er beruht – und wie wenig gerechtfertigt diese rein logisch betrachtet eigentlich sind.
Genauso wie Harari mit »Sapiens« die Zivilisationsgeschichte als Erfolgsgeschichte in Frage stellte, lässt einen »Homo Deus« zweifeln, ob man als Mensch eigentlich zu den good guys gehört oder nicht doch eher zu den bad guys. In Science-Fiction-Filmen stellen Menschen sich üblicherweise als Opfer von Alien-Angriffen dar, die die Menschheit für ihre Zwecke ausrotten oder missbrauchen wollen. Wir porträtieren uns selbst als die good guys. Schaut man sich aber unseren Umgang mit Tieren an und denkt sich einmal, die Tiere wären Menschen, die Menschen die Aliens, wird einem mit Schrecken bewusst, dass man vielleicht eher auf der Seite der bad guys steht – und im Verlauf der Menschheitsgeschichte schon immer gestanden hat.
Yuval Noah Harari, Foto © Daniel Thomas Smith
Trotz aller Düsternis ist »Homo Deus« eine inspirierende Lektüre. Harari will sein Buch ausdrücklich nicht als beklemmende Prophezeiung verstanden wissen. Er will dadurch gerade erreichen, dass Menschen darüber nachdenken, wie sie mit den Möglichkeiten, die durch technischen Fortschritt entstehen, umgehen könnten: Ähnlich wie Karl Marx laut Harari den Kapitalismus gewissermaßen gegen seinen Willen rettete, indem er seinen Untergang vorhersagte.
»Homo Deus« steckt so voller origineller Gedankengänge und Ideen, dass man es gleich noch einmal lesen möchte, um alles aufzunehmen und zu verarbeiten. Es konfrontiert einen mit Fragen wie: Ist es okay, die Bewegungen einer Ratte mithilfe in ihr Gehirn implantierter Elektroden zu steuern, wenn sie sich super dabei fühlt? Welche Rolle spielt Politik in Anbetracht der Tatsache, dass über die Dinge, die die Welt am meisten verändern, oft gar nicht abgestimmt wird – etwa die Einführung des Internets?
Kurz gesagt: Wem »Sapiens« gefallen hat, der sollte sich »Homo Deus« auf keinen Fall entgehen lassen.
Yuval Noah Harari: Homo Deus. A Brief History of Tomorrow
Harper 2017 | 464 Seiten
Deutschsprachige Ausgabe:
Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen | Deutsch von Andreas Wirthensohn
C.H. Beck 2017 | 576 Seiten
Sabine Anders