Globalismus

Die Notwendigkeit, global zu denken und zu handeln trotz der Schmerzen und Enttäuschungen in den Prozessen der multilateralen Verständigung.

Wir und Sie werden wieder nationaler. Das Grundmuster sozialer Unterscheidungen in der Differenz von »Wir« und »Die da« wird wieder schärfer. Zugleich werden unsere Probleme globaler – sie betreffen uns alle und es gibt keine Aussicht auf eine Lösung innerhalb der Teilgliederungen unserer fragilen globalen Ordnung.

Mit der Zunahme der gegenseitigen Interdependenzen, der Unberechenbarkeit von global auftretenden Ereignissen (aktuell z.B. Pandemien), der Krise eines Verhaltens zur Natur, die nationale Grenzen nicht kennt, wird die Steuerungsfähigkeit und Problemlösungskompetenz nationaler Einheiten kontinuierlich geschwächt. Akute Problemstellungen, wie der Klimawandel, das fragile Finanz- und Bankensystem, die Risiken von Technologien (z.B. Genmanipulation, Energiegewinnung) und die zunehmende, soziale Ungleichheit in der Verteilung von Gütern lassen sich nur multilateral zu Lösungen hinführen. Ein mühsamer und mit vielen Kompromissen versehener Prozess. Es haben sich inzwischen viele multinationale Gremien, Institutionen gebildet, in denen diese Themen zumindest besprochen werden können und so auf die Agenda auch der nationalen Institutionen kommen. Diesen Gremien fehlt oft die Legitimität, die bisher immer nur in der Bereitschaft der nationalen Organisationen liegt, sich an ihnen zu beteiligen und sich auch deren Entscheidung zu unterwerfen. Wir erleben gerade eine Schwächung dieser multinationalen Organisationen, was die globalen Problemlösungsprozesse deutlich verzögert.

Wenn wir auf Unternehmen blicken, dann sehen wir ähnliche Bewegungen und in manchen Aspekten wohl auch solche, die als beispielhaft gelten können. Für Unternehmen ab einer gewissen Größe gibt es zum Handeln in einem globalen Markt keine Alternative. Und das heißt, sie müssen sich mit der Interdependenz von Märkten und Kulturen auseinandersetzen, sich auf die Fragilität multilateraler Einflüsse einlassen und handlungsfähig bleiben, wenn globale Ereignisse tiefe Einschnitte in die Autonomie des Handelns verursachen. Intern müssen kultur-, nationen- und glaubensübergreifende Diskurse geführt werden, um gemeinsame Lösungen zu finden und in den Interdependenzen getragene Entscheidungen treffen zu können. Das verlangt sehr aktive und ausgedehnte Kommunikationsprozesse, deren Mantra mit »Speak Up« beschrieben werden kann. Hier gab es viele, bereits als vertikal bezeichnete demokratische Gesprächsformate, die alle auf eine Bewegung hin zu gemeinsamen Überzeugungen zielen.

Wir beobachten derzeit mit Sorge, wie sich eine Haltung ausprägt, die sich explizit gegen ein »Speak Up« entscheidet, so dass sich wieder verstärkt eine Anpassungskultur etabliert, in deren Hintergrund zunehmend Ärger und Genervtheit wächst. Dennoch zeigt die nicht nur modische Konzentration auf Haltungen der Kollaboration/Kooperation deutlich, dass in den Unternehmen das Bewusstsein für die Notwendigkeit des multiperspektivischen Diskurses wächst und man sich zunehmend von der einen, durch Prozesse und Prinzipien geleiteten »wahren« Perspektive verabschiedet hat. Natürlich ist es schwierig in den heute durch komplizierte Matrixorganisationen dominierten Organisationen zu gemeinsamen Entscheidungen zu finden. Auch wenn die westliche, postkoloniale Position immer noch dominant ist, so erweitert sich der Gesprächs- und Entscheidungsraum um lokale, regionale, funktionale Perspektiven, so dass differente Interessen, Glaubenssätze und Einstellungen zu Wort kommen. Das Tableau derjenigen, die sprechen dürfen und die gehört werden, erweitert sich deutlich.

Für Führungskräfte sind solche Prozesse häufig mit dem Gefühl des Kontrollverlustes verbunden. Sie unterschätzen, wie wichtig ihre regulierende und hier durchaus kontrollierende Rolle in der Initiierung und Begleitung solcher Abstimmungsprozesse ist. Mit den Ambivalenzen und Unsicherheiten des Kooperationsgebotes von unterschiedlichen, manchmal sehr divergenten »Spieler*innn« umzugehen und in der Führung eines Gespräches zu bleiben verlangt viel von Führungskräften: so die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, zur Stabilisierung innerer Sicherheit und zu hoher Reflexivität bezogen auf die eigenen Vorannahmen und Einstellungen. Das sollten auch die wesentlichen Faktoren einer Führungsbildung sein.

Natürlich sind in Unternehmen noch weite Wege zu gehen – und dennoch sind sie in der Bewältigung der globalen Ambivalenzen, Differenzen unseren Nationen schon ein gutes Stück voraus. Dazu hat auch die Einsicht geführt, dass das eigene Unternehmen Teil der global politischen Landschaft ist und die Gesellschaften nicht nur unter dem Aspekt »Kunde« betrachtet werden können. Mit der Anstrengung, sich der Diskussion um eine »Purpose« zu stellen, haben sich Unternehmen weit für die gesellschaftliche Verantwortung geöffnet. Mitarbeiter*innen sind hier nicht mehr nur irgendwie zu motivierende Subjekte, sondern sie repräsentieren Gesellschaften und deren Anliegen. Diesen ersten Schritten müssen weitere folgen. Ich kann nicht von »Mindset Change« sprechen, ohne die divergenten Grundeinstellungen der Mitarbeitenden wenigstens mit ins Kalkül zu ziehen, und das heißt auch, sich der Notwendigkeit zu öffnen, auch politisch Position zu beziehen.

So wie Diversität neben der kulturellen Differenz, der des Alters sowie der Genderdifferenz auch die sexuelle Differenz ins Gespräch gebracht hat und damit eine der sozialen Friedensregelungen in Unternehmen: »kein Gespräch über Sex« hat wanken lassen, so gilt das auch für die Konfliktvermeidungsstrategie des »kein Gespräch über Politik«. Jedoch, was nicht ansprechbar ist, das wirkt im Hintergrund und in der die Kultur wesentlich beeinflussenden informellen Organisation.

Unternehmen sind auf dem Weg – die Betonung von kooperativen Entscheidungsprozessen und der Etablierung der dafür geeigneten Gremien sind wichtige Schritte. Inwieweit es schon gelingt, auch gesellschaftlich stärker divergenten Positionen und kulturell sehr anderen Entscheidungsprozessen einen angemessenen Raum zu geben ist sicher diskussionswürdig. Auch die Unternehmen ringen noch mit postkolonialen Einstellungen, die ja häufig von den »Besitzverhältnissen« geprägt sind.

Teil dieser »Reise« zu sein, gibt der Führung der Gemeinschaften, die sich um einen unternehmerischen Zweck gruppieren, eine spannungsvolle Aufgabe. In alten Bildern gesprochen, für die Seite der Finanzgeber*innen und Eigentümer*innen vertreten sie die Oligarchie und zugleich sind sie Volkstribune, die die Interessen der Unternehmensgemeinschaft vertreten. Eine spannungsvolle und herausfordernde Aufgabe.

Rüdiger Müngersdorff

Die politische Dynamik der Organisationsentwicklung II

Ein Unternehmen ist immer auch eine Gemeinschaft und so ein Ort politischen Handelns. Damit meine ich nicht die mikropolitischen Konzepte, die sich im Wesentlichen auf die taktisch-technischen Aspekte des Karrieremachens und des sich Durchsetzens beziehen, sondern auf die Notwendigkeit, Diversität, die Unterschiedlichkeit von Interessen und Perspektiven der Gemeinschaft in der Gemeinschaft zu vermitteln, um ein zielgerichtetes Verhalten und Arbeiten zu ermöglichen.

Das hat einen unternehmensinternen Grund – nämlich die ständige Konstitution des Unternehmens als gemeinsames Anliegen, in dem die Interessen verschiedener Gruppen berücksichtigt werden und es hat einen externen auf den Markt bezogenen Grund, nämlich das Wissen und die Einsichten der Mitarbeiter_innengruppen für Entscheidungsfindungen nutzen zu können.

Es ist derzeit eine allgemein vertretene Meinung, dass hierarchische Konzepte (König/CEO oder Oligarchie/Vorstand/Führungsteam) die agile, diverse, vielperspektivische Kompetenz der Gemeinschaft nicht nutzen können und so die komplexe und kontingente Dynamik des Marktes (VUCA) nicht abzubilden vermögen. Daher gibt es viele Vorschläge, wie die Stimme der Mitarbeiter_innen mehr Bedeutung erlangen und in Entscheidungsprozesse einfließen kann. Dies wird im Allgemeinen mit dem Begriff Demokratisierung sowohl der Unternehmen und als auch der Führung bezeichnet.

Im athenischen Konzept der Demokratie hat die »Agora«, der Ort, an dem die Gemeinschaft zusammentritt und bestimmt, was zu besprechen und was zu entscheiden ist, eine große Bedeutung. Nun ist in einem eher überschaubaren Stadtstaat mit den deutlichen Restriktionen, wer als Bürger zu gelten hat, die Bestimmung eines Ortes und einer Zeit zum Zusammenkommen eher einfacher als in den heutigen global aufgestellten Unternehmen. Dennoch möchte ich über die Idee, dass es so etwas wie eine »Agora« in Unternehmen geben kann, diskutieren und fragen, wie denn Schritte zu einem leistungsfähigen demokratisierenden Prozess der Unternehmensentwicklung aussehen können.

In den heute noch überwiegend hierarchischen Strukturen der Unternehmen bestimmen Hierarchen, wo die Agora des Unternehmens ist und wer zu ihr Zugang hat. Und so bestimmt ein kleiner Zirkel, was es zu besprechen gilt und was zu entscheiden ist. Es ist ein Kreis von Menschen, die eine ähnliche Sozialisation erfahren haben und einander in wesentlichen Grundzügen ähnlich sind. Der große Rest der Organisation wird dann darüber informiert, was nun wichtig ist und was entschieden wurde. Die Information geschieht in einer bürokratisch organisierten Form durch Methoden wie z.B. Zielvereinbarungen, unterstützt von zentral gesteuerten Kampagnen, die die Aufmerksamkeit der Vielen fokussieren sollen. Verstärkung erhält dieses System der Durchsetzung von Führungsentscheidungen durch Belohnungs- und Bestrafungsanreize.

In der Regel sind Unternehmen heute politisch oligarchisch verfasst (ausgenommen Inhaberunternehmen, die eher monarchisch verfasst sind). Das heißt, eine kleine homogene Gruppe bestimmt, wer Zugang zum Ort der thematischen Diskussion und Entscheidung hat, bestimmt die Regeln und Formalien des »Gesprächs« und bewahrt seine Exklusivität (die Erfahrung zeigt, dass es bei Entscheidungen zur Teilnahme an Gesprächen oft mehr um den Status, als um den möglichen inhaltlichen Beitrag geht). Da diese Gruppe gleichzeitig die Hoheit über die Kommunikationsmedien hat, ist die Geschlossenheit der Gruppe gewährleistet – es gibt keine Gewaltenteilung, kein System von »Check and Balance«.

Mit der Verbreitung sozialer Medien in der Gesellschaft, die in das Unternehmen hineinwirken aber auch durch den Aufbau interner sozialer Medien ist das Monopol der Kommunikation in Frage gestellt. Es gibt nun einen sich laut äußernden Resonanzkörper, noch zögerlich, aber immer deutlicher vernehmbarer. Die sozialen Medien bilden »Netzwerke«, thematisch bezogene Gemeinschaften – noch sehr fragmentiert – doch stabiler werdend. So entwickelt sich jenseits der Oligarchie (der Führung) eine eigene Agora, ein Ort oder Orte, in denen Mitglieder der Gemeinschaft des Unternehmens ihre Perspektiven einbringen, Kontroversen sichtbar machen und sich über das, was jetzt nottäte, verständigen. Unternehmen werden laut. Diese Foren sind von der Idee der Teilhabe getragen und verändern so die Führungsrealität. Je mehr unternehmensinterne Plattformen zu einer Agora werden, desto mehr werden sie auf wesentliche Fragen der Unternehmen Einfluss nehmen – sie werden mitbestimmen, welche Themen denn wichtig und zu besprechen sind und, was zu entscheiden ist.

Es ist ein starker Trend, einer der Trends, die sich nicht ignorieren lassen: Alle aktuellen Debatten, so verschieden sie im Einzelnen auch sind, ob Demokratisierung der Unternehmen, #metoo, Gender und Diversity insgesamt, Inklusion, breitere politische Beteiligung – sie haben alle eins gemeinsam: Sie verlangen Gleichheit, Mitsprache, Teilhabe und damit eine Reduzierung der Hierarchie, der Ungleichverteilung von Macht.

Es ist unausweichlich, dass Unternehmen sich in dieser Dynamik damit beschäftigen, wie sie Teilhabe in erheblich größerem Maße als heute ermöglichen können. Und dabei gibt es einen zusätzlichen Gewinn: die Klugheit, die Vielstimmigkeit der Perspektiven und das Engagement der Vielen.

SYNNECTA hat mit dem Durchwegungskonzept (1) Übergangsformen beschrieben, mit denen sich Teilhabe jenseits der üblichen Kampagnenkonzepte einüben lässt. Und in einer Diskussion um eine Teilhabe ermöglichende Unternehmensverfassung geht es nicht um die Abschaffung von Führung, sondern um die Gestaltung von Foren, in denen verschiedenen Interessen und Perspektiven zu einem Gespräch werden können – zum Nutzen der Fähigkeit des Unternehmens, auf Veränderungen im Innen und im Außen agil reagieren zu können.

Differenz ist auch in Unternehmen der wichtigste Motor für Veränderung. Es geht dabei nicht um die Differenz, die schweigend immer schon da ist, sondern um die Unterschiede, die zur Sprache kommen können und für die es einen Ort des Sprechens gibt. Die geschlossenen oligarchischen Strukturen lassen diesen Motor stottern. Heraklit hat in einem Lob auf die Differenz gesagt: »Das Widereinanderstehende zusammenstimmend und aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie.«

Rüdiger Müngersdorff

(1) Rüdiger Müngersdorff/Jörg Müngersdorff: Netzwerke in Unternehmen in Jens Hollmann, Katharina Daniels (Hrsg.) »Anders wirtschaften – was Erfolgreiche besser machen«.

Die politische Dynamik der Organisationsentwicklung

Politik als treibende Kraft in Unternehmen – ein Thema, das Unternehmen in der Regel zurückweisen. Sie akzeptieren Konzepte der Mikropolitik, die eher auf Karriere abheben und mehr oder weniger das Einflussgefüge in Netzwerken beschreiben. Aber politische Konzepte zur Beschreibung des eigenen Unternehmens und zur Konzeption von Veränderungen, das lehnen Unternehmen ab. Politik ist für die meisten Unternehmen irrational – und sie bestehen darauf, dass das eigene Unternehmen Gesetzen der Rationalität und Logik folgt. Emotionale Aspekte sind eher Störgeräusche und Barrieren, die es mit ebenfalls rationalen Methoden einzudämmen gilt. So wird zum Beispiel Empathie zu einem Führungsinstrument und in Seminaren als Methode trainiert.

Blickt man jedoch auf die Organisationsveränderungen, die mit dem Thema Agilität einhergehen, analysiert man die sich in Richtung Beziehungskompetenz entwickelnden Führungsleitlinien und schaut man auf die Überlegungen zu einer mehr demokratischen Legitimierung von Hierarchie, dann wird deutlich, dass genuin politische Konzepte in der Organisationsentwicklung ihren Platz haben sollten.
Ausgehend von einer soziologisch-politischen Analyse von Didier Eribon übertragen wir eine politische Frage auf die Situation in Unternehmen:

Eribon: »Wir stehen damit vor der Frage, wer das Recht hat, das Wort zu ergreifen, und wer auf welche Weise an welchen politischen Entscheidungsprozessen teilnimmt – und zwar nicht nur am Erarbeiten von Lösungen, sondern bereits an der kollektiven Diskussion darüber, welche Fragen überhaupt legitim sind und daher in Angriff genommen werden sollten. Wenn die Linke sich als unfähig erweist, einen Resonanzraum zu organisieren, wo solche Fragen diskutiert und wo Sehnsüchte und Energien investiert werden können, dann ziehen Rechte und Rechtsradikale diese Sehnsüchte und Energien auf sich.« (Diedier Eribon, Rückkehr nach Reims, Berlin 2016)

Umformuliert und auf die Situation von Unternehmen bezogen, würde der Satz wie folgt lauten (Änderungen kursiv): Wir stehen damit vor der Frage, wer das Recht hat, das Wort zu ergreifen, und wer auf welche Weise an welchen unternehmerischen Entscheidungsprozessen teilnimmt – und zwar nicht nur am Erarbeiten von Lösungen, sondern bereits an der kollektiven Diskussion darüber, welche Fragen überhaupt legitim sind und daher in Angriff genommen werden sollten. Wenn die Hierarchien sich als unfähig erweisen, einen Resonanzraum zu organisieren, wo solche Fragen diskutiert und wo Sehnsüchte und Energien investiert werden können, dann ziehen unternehmensfremde Kräfte diese Sehnsüchte und Energien auf sich.

Wer wirklich engagierte Mitarbeiter_innen gewinnen möchte und wer das Potenzial der Diversität heben möchte, kommt an der Beantwortung dieser genuin politischen Frage nicht vorbei. In der Organisationsentwicklung sehen wir nur dann kulturelle Veränderungen, wenn Mitarbeiter_innen in diesem Entwicklungsprozess das Unternehmen zu ihrem Unternehmen machen können.

Rüdiger Müngersdorff