Sinnstiftende Klarheit: Ein Plädoyer für das Erzählen als Führungsinstrument (VUCA-Handling VI)

Die Abenteuergeschichten zuerst, bitte.
Erklärungen brauchen immer so schrecklich lange …

(Lewis Carroll, Alice im Wunderland)

Mythen haben in unserer aufgeklärten, modernen Welt keinen Platz mehr – sie werden durch Tatsachen verdrängt. Gemeinhin wird der Mythos als »falsches Bewusstsein« und Widersacher des Logos verfemt. Während letzterer sich auf die Realität und ihre rationale Verarbeitung konzentriert, verzerrt der Mythos die Fakten und baut aus ihnen bzw. um sie herum ein Fanatasiegebäude. Das lassen wir in Form von Märchen vielleicht noch in der Welt unserer Kinder gelten. In der Normalität des Alltags jedoch erkennen wir keinen Mehrwert des Mythos.

Konsequenterweise geben auch Unternehmen immer Logik und Kalkulation den Vorzug. Ihre Welt funktioniert auf der Basis von Fakten und Daten, die mit Vernunft und Rechnung schlüssig verarbeitet werden können. Ein »Bauchgefühl«, ein »Wittern« von Gefahr oder ein »Riecher« für eine Gelegenheit überzeugen keinen Vorstand. Wer sich im Unternehmensdiskurs intuitiv äußert, wird erst einmal dazu verdonnert, seinen Instinkt mit einem aufwändigen Business Case und mit validen Zahlen zu belegen. Unternehmen werden aber nicht nur zahlenbasiert gesteuert, sie werden immer datenintensiver: Softwarebasierte Strategiecockpits lassen detaillierte KPI-Checks zu. Die erfolgsabhängige Vergütung wird an logisch abgeleitete Zielkaskaden und Performancebewertungen gehängt, welche die erbrachte Leistung bzw. den Zielerreichungsgrad messen und in Bonus umrechnen. Projekterfolge müssen bereits im Voraus über genaue Zieldefinitionen und Kennzahltabellen belegbar gemachtwerden …

Unternehmen profitieren davon, dass die logische Vermessung unserer Welt auch in den Märkten und Konsumentensegmenten immer mehr Daten generiert. Durch Webtechnologie werden Menschen hinsichtlich ihres Konsumprofils, Such- und Leseinteresses, Gesundheitszustands, Freundeskreises, Reiseverhaltens etc. immer transparenter. In der Korrelation dieser Daten werden Profilgruppen in ihrem Verhalten gleichzeitig auch immer berechenbarer. Konsequent rief 2008 der Chefredakteur des Wired Magazine Chris Anderson das »Ende der Theorie« aus: Heute benötigen wir keine Theorie mehr, da wir mittlerweile über so große Datenmengen verfügen, dass wir Antworten auf Fragestellungen einfach statistisch ausrechnen und Prognosen für die Zukunft computertechnisch simulieren können. Hypothesen werden hinfällig, da Daten sofort abgeglichen werden können. »Forget taxonomy, ontology, and psychology. Who knows why people do what they do? The point ist they do it, and we can track and measure it with unprecedented fidelity. With enough data, the numbers speak for themselves.«

Jedoch: Alle zwei Jahre verdoppelt sich das globale Datenvolumen und wird damit zunehmen zu Big Data, um eine der neuesten Phrasen für die Beschreibung einer zentralen Herausforderung in der Unternehmenswelt zu dreschen. Eine neue Industrie arbeitet mittlerweile daran, Unternehmen Software und Technologien anzubieten, die ihnen in der Auswertung der immer größer werdenden, an Komplexität zunehmenden und sich schnell wandelnden Datensätzen Wettbewerbsvorteile verschaffen. Logische Algorithmen versuchen die Flut der Daten zu bändigen.

Jedoch bei aller Technologie: Mehr Information heißt nicht automatisch mehr Wissen. Die zunehmende Berechnung der Unternehmenswelt führt bei ihren Bewohnern nicht automatisch zu einem gesteigerten Gefühl der Sicherheit. Sicherheitsgefühl und Wohlergehen lassen sich nicht allein an nackte Zahlen binden. Denn Zahlen können zwar ein »Was?« ausleuchten, nicht jedoch das sinnstiftende »Warum?«, wie die leitende Wissenschaftlerin von Microsoft Research, Dannah Boyd beharrlich konstatiert. »Dataismus ist Nihilismus«, schreibt daher der Philosoph Byung Chul Han. »Sinn beruht dagegen auf der Narration«, auf einer guten Geschichte. »Zählung ist nicht Erzählung. (…) Nicht Zählen, sondern Erzählen führt zur Selbstfindung oder zur Selbsterkenntnis.« In das gleiche Horn stößt der Chaosforscher und Psychologe Andreas Huber: Er konstatiert, dass wir die gesteigerte Komplexität unserer VUCA-Welt nur noch über ein metaphorisches Denken verstehen und beschreibbar machen können. So gesehen kündigt Chris Anderson mit seinem einseitigen Lob der Datenmessung und der Verabschiedung jeder Theorie das sinnvolle (genauer: Sinn-volle) Arbeiten auf.

Die Logik der Fakten und Zahlen stößt genau hier an ihre Grenzen. Sie kann nicht erzählen. Sie kann nicht metaphorisch denken. Sie kann nicht die Sinnfrage stellen. Das alles kann aber der Mythos. Ich möchte hier die Hypothese aufstellen, dass Unternehmen in der VUCA-Situation in erhöhtem Maße eine – wie es Hans Blumenberg nennt – »Arbeit am Mythos« benötigen, um mit dem verwirrenden »Absolutismus der Wirklichkeit« fertig zu werden. Dabei geht es mir nicht darum, den Logos durch den Mythos zu ersetzen; ich plädiere lediglich dafür, dass neben allen sinnvoll eingesetzten Daten-, Mess- und Analyseinstrumenten eine narrative Struktur Mitarbeitenden tiefgreifende Orientierung bieten kann – auch bzw. vor allem dann, wenn kein konkretes Ziel in Sicht ist und/oder der genaue Weg im Dunkeln liegt. Ich glaube, dass Führungskräfte mit einem Fokus auf das Erzählen im Unternehmen eine richtungsweisende Klarheit schaffen können, die für Mitarbeitende intuitiv erfassbar ist und ihnen gleichzeitig genügend Freiraum zum Handeln lässt.

In diesem Blog habe ich sechs AIKIDO-Prinzipien formuliert, mit denen Menschen und Unternehmen VUCA wirksamer begegnen können. Der Mythos ist kompatibel mit den ersten drei Grundhaltungen Agilität, Klarheit und Intuition. Als Erzählung, mit der die Welt und das Dasein in sinnvollen Bezug gesetzt werden, spielt der Mythos seit jeher eine kulturstiftende Rolle. Ohne etwas logisch zu belegen, konzentriert er sich auf die Wahrheit hinter den Fakten. Er äußert sich assoziativ in Bildern und Symbolen und spricht als Musik in Worten (Kerenyi) über den Inhalt eine intuitiv erfassbare und empathisch erfahrbare Sprache. Dabei liefert der Mythos einen einfachen Grundtext, der in seiner konkreten Ausformulierung ständig variabel bleibt. »Die Substanz des Mythos liegt weder im Stil noch in der Erzählweise oder der Syntax, sondern in der Geschichte, die darin erzählt wird«, schreibt Levi-Strauss, einer der bekanntesten Mythenforscher. Das heißt: jeder Mensch kann grundsätzlich einen Mythos kreieren bzw. ihn auf seine persönliche Art und Weise erzählen. Der Inhalt des Mythos liefert eine sinnhafte und Sinn stiftende Vorlage, die das »Warum?« beantwortet. Er transportiert gleichzeitig ein Wertegerüst, an dem Menschen ihr Handeln ausrichten können. Während Daten einen differenzierten, logischen Realitätssinn erlauben, hilft der Mythos dabei, Inhalte zu filtern, Mitarbeitende zu zentrieren und auf das Wesentliche zu fokussieren. Darin liegt seine grundsätzlich klärende Kraft. Dabei erlaubt der Mythos jedoch stets Freiraum für bewegliches Agieren und geht damit konform mit einem dritten AIKIDO-Prinzip der Agilität. Seine Aussagen bleiben an das konkrete, bildhafte Ereignis der Erzählung gebunden, erfolgen also immer nur exemplarisch und erlauben Interpretation. Ein Mythos stellt niemals eine Prozessbeschreibung oder ein Regelbuch zur Verfügung sondern verbildlicht exemplarisch Prinzipien, die vom Menschen selbst in der konkreten Situation in Verhaltensregeln übersetzt werden müssen.

In der VUCA-Situation können Führungskräfte also durch eine intuitiv wirkende, klärende Erzählung die Kraft des Mythos wirksam machen. Als Minimalstruktur für eine Führungserzählung schlage ich dabei folgende, in der Beratungspraxis bewährte Storyline vor:

  1. Situationsbeschreibung: Was ist unsere aktuelle Herausforderung?
  2. Purpose Statement: Welchen Sinn stiften wir gemeinsam?
  3. Value Statement: Welche Grundwerte dienen unserem Tun als Leitplanken?
  4. Leadership Statement: Wie führe ich Euch auf dem Weg, worauf könnt Ihr bei mir vertrauen?

Man beachte, dass die Führungserzählung von Volatilität und Zukunftsungewissheit nicht »angreifbar« ist. Denn sie fragt nicht konkret: Welches Ziel haben wir? Welche Regeln wenden wir an? Was sind meine Erwartungen? Sie bleibt in ihrer zieltechnischen Zukunftsbeschreibung bewusst fuzzy, ist jedoch aus dem Moment heraus verhaltensorientierend.

Eine gute Führungserzählung findet kurze, pointierte Antworten auf die Fragen und ist im Kern in maximal einer Minute erzählt. Die Kürze der Erzählung hilft der Zuspitzung der Inhalte und schafft Eingängigkeit. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, dass sich Führungskräfte ihre Führungsgeschichten gegenseitig vortragen und anschließend Feedback geben, um die Wirkung ihrer narrativen Struktur zu testen.

Der Inhalt der Führungserzählung wird idealerweisemit Metaphern angereichert. Eine gute Erzählung öffnet oder schließt mit einer Assoziation, einem Symbol, einem Motto, einem Leitspruch … Die Statements zu Purpose, Value und Leadership können und sollten nicht nur über Worte als Geschichte erzählt, sondern in Bildern illustriert, in Assoziationen emotionalisiert, in Gegenständen symbolisiert, in Erfahrungen empathisch begreifbar gemacht werden.

Mythen werden nie nur einmal vorgetragen. Sie leben davon, dass sie immer wieder erzählt werden – mit gleichem Inhalt jedoch auf immer neue Art und Weise. Erfolgreiche Kommunikation lebt von Redundanz, von Wiederholung, von Doppelung. Erzählen heißt nicht, dass ich eine Powerpointpräsentation halte und die Folien zur Verfügung stelle. Oder dass ich eine Hochglanzbroschüre drucken lasse und sie auslege. Die Erzählung bedarf der Oralität. Um wirksam zu werden, müssen Führungskräfte mit ihrer Erzählung immer wieder spontan in Gespräche einsteigen, Meetings inspirieren, das Kantinengespräch beleben, den Flurfunk positiv besetzen … Der Inhalt bleibt dabei gleich, die Art der konkreten Erzählung wird jedoch je nach Situation spontan angepasst. Überall dort, wo erzählt werden kann, kann der gleiche Erzählkernso auf vielfältige Art wuchern.

Social Media bieten – bei allen Vorbehalten und aller Abneigung, die man gegen sie hegen mag – eine zusätzliche attraktive Kommunikationsplattform für Führungskräfte, um ihre Erzählungen fruchtbar zu platzieren und damit ihre Mitarbeitenden erzählend zu orientieren. Facebook und Co. zeigen, welche Attraktivität das Erzählen gegenüber dem Zählen hat. Statistiken, Balkendiagramme, Zahlenkolonnen sind in diesen sozialen Medien quasi nicht existent. Dafür werden die Posts von Filmschnipseln, Bildern, Sinnsprüchen, Klatschgeschichten, Kurzinformationen dominiert. In sozialen Netzwerken tippen die Nutzer zwar am Computer ihre Botschaften; die Plattformen wirken jedoch nach Gesetzen des gesprochenen Wortes. Im Gegensatz zu hierarchischen, statusorientierten Bürokratien haben orale, community-basierte Netzwerke eine viral wirkenden Kommunikationsstruktur: Durch die strukturierte Gleichheit aller Teilnehmer verbreitet sich hier die Botschaft am schnellsten, die den attraktivsten Inhalt hat.

Genau hier kann sich der narrative Vorteil einer Führungserzählung entfalten: In Social Media kontinuierlich den mit Purpose, Value und Leadership Statment korrespondierenden Filmclip, das adäquate Zitat, das aussagekräftige Bild, das paradimatische Ereignis, den zur Diskussion einladenden Link zu posten, gibt einer Führungskraft die Möglichkeit, immer wieder – aber immer wieder auf neue Art und Weise – einen orientierenden Erzählkern wiederkehren zu lassen. In diesem Sinne werden gute Führungskräfte im Digital Workspace ein neues Kompetenzprofil benötigen: Neben dem logischen Denker wird im inneren Führungsteam auch der wortgewandte Literat, der ästhetische Künstler und der kreative Bastler vertreten sein müssen.

Mit diesen Ausführungen möchte ich nicht für eine verdummende Verblendung oder unethische Manipulation von Mitarbeitenden plädieren! Ganz im Gegenteil: Ich möchte die Führungskraft in die Pflicht nehmen. Es geht darum, durch erzählende Führung kontinuierlich ein Sinn-, Werte- und Führungsversprechen zu erneuern, an dem sich die Führungskraft in der Praxis messen lässt. Damit kann – so bin ich überzeugt – das Erzählen ein wertvolles Führungsinstrument werden, das Mitarbeitende in Unternehmen mit der intuitiven Klarheit des Mythos besser durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität führen kann.

Johannes Ries

Eindrücke: Eine FührungsReise

Zwei Tage zu Führung, VUCA, Selbstführung, Work-life-Balance

Mit einem blauen Umhang um die Schultern einen fiktiven Catwalk im Museum entlang gehen, und sagen, wer man ist – nicht unbedingt das typische Verhalten eines Managers. Aber eine Szene mit Teilnehmenden der »FührungsReise«…

Die »FührungsReise« ist ein maßgeschneidertes SYNNECTA-Format der besonderen Art. Im Juli 2014 sind 16 Führungskräfte eines großen deutschen Unternehmens mit uns auf eine 2-tägige Reise gegangen: Die Stationen waren ebenso ungewöhnlich und unberechenbar wie auch der Führungsalltag in der globalen Wirtschaftswelt. Wir nutzten diese Reise, um die Herausforderungen des eigenen Führungsalltags einmal aus ganz anderen Blickwinkeln zu erleben. Der Fokus lag auf der Betrachtung äußerer und innerer Landschaften, in denen Führungskräfte agieren. Dabei stellten sich den Führungskräften elementare Fragen.

  • Mit welchen globalen Bedingungen bin ich im Arbeitsalltag konfrontiert?
  • Wie gehe ich damit um und wie fühle ich mich dabei?
  • Wie löse ich Krisen? Wer oder was gibt mir Kraft?
  • Was bedeutet das für mich in meiner Vorbildfunktion im Unternehmen?

Die vermeintlich trennbaren Arbeits- und Lebenswelten wurden im Laufe der Reise immer stärker eins, die Achsen des Innen (mein Leben) und Außen (die Arbeit) neu ausgerichtet, und bald eher als Zentren im eigenen Leben wahrgenommen. Zentren, die sich gegenseitig bedingen und kaum losgelöst voneinander gelebt werden können.

Die Reise brachte uns zunächst nach Ehreshoven ins Bergische Land, wo wir in der Malteser Kommende beherbergt wurden und uns verschiedenen Themen widmeten: der VUCA-World, der 1000-jährigen Geschichte der Malteser und ihrem Umgang mit Unsicherheiten, dem eigenen Führungsverhalten und der Selbstführung.

VUCA beschreibt die Bedingungen und Herausforderungen der heutigen Welt: Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity. Globale und äußere Umstände, in denen VUCA entsteht, kann ein einzelner Mensch kaum beeinflussen. Die eigene Umgebung, in der sich VUCA zeigt, lässt sich jedoch gestalten, so wird VUCA »erträglich«, so schöpfe ich Ertrag. Am Ende stand eine zentrale Erkenntnis, nicht Ankämpfen gegen eine VUCA-World ist gefordert, vielmehr fanden die Führungskräfte Wege, diese Energie zu nutzen. Ein versöhnlicher Blick auf unruhige Zeiten.

Im ethnologischen Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln entdeckten wir gemeinsam die Vielfalt kultureller Phänomene der Welt und widmeten uns mit den Teilnehmern unter anderem der Frage, wie in anderen Kulturen mit VUCA umgegangen wird. Wertvolle Impulse gab uns Dr. Clara Himmelheber, Ethnologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Museums, die begeistert – und uns begeisternd – durch das Museum führte und ihre Perspektiven auf Reisen, Selbstreflektion, Begegnungen in unsicheren Situationen mit uns teilte.

In selbstreflektiven Übungen und Dialogen suchten wir miteinander Antworten auf Fragen der Herkunft, der Kultur und entwickelten Perspektiven zur SelbstFührung und zur persönlichen Work-Life-Balance.

  • Wie fühlt es sich an, bei sich anzukommen?
  • Etwas von sich preiszugeben, was bisher vielleicht verborgen war?
  • Wie passen diese »weichen« Erkenntnisse über mich selber zu einem Alltag, in dem knallharte Entscheidungen getroffen werden müssen?

Für die Teilnehmenden und für uns als SYNNECTA-Beraterinnen ist eine solche Veranstaltung eine AusZeit, die wir als sehr wertvoll und bereichernd empfinden. Gemeinsam mit der Gruppe gelangen uns spannende Ein- und Ausblicke. Das Erkunden neuer Orte, Kennenlernen anderer Perspektiven, das sich Einlassen auf Fremdes und Neues erzeugte einprägsame Erkenntnisse über uns selbst und unser Gegenüber. Die FührungsReise brachte uns an Orte der Konfrontation mit sich Selbst, des intensiven Erlebens und des komplexes Lernens. Die Bedeutung dessen wird im Alltag immer wieder neue Dimensionen erreichen und sich im konkreten Umgang miteinander zeigen.

Wer von einer Reise zurückkommt, hat diese Erfahrung schon gemacht – viele Eindrücke bekommen erst im Alltag eine Bedeutung und entfalten ihre Wirkung, wenn wir wieder zuhause sind. Das auf der FührungsReise Erlebte werden die Teilnehmenden in ihre Handlungsräume übersetzen und nutzen können: Bewusstheit über sich, Offenheit für Neues, Positionierung und Weitblick bei Veränderungen – all dies sind gute Eigenschaften und günstige Bedingungen für entspanntes und zielführendes miteinander arbeiten.

Hanna Göhler

Leben, Arbeit und Spielen in der VUCA-Welt: Die SOPHIA 2014

Im loftartigen, herbstlich-warmen Ambiente des Kölner Kunstsalons, mit Blick über die bunten Dächer des Kölner Südens trafen sich SYNNECTA BeraterInnen und Trainer und Teilnehmende aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur zur SOPHIA 2014. Das Ziel: gemeinsam Ergebnisse zu den neuesten Entwicklungen aus Organisationsentwicklung und Change Management zu erarbeiten.

Flüchtigkeit/Volatilität, Unbestimmtheit/Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität/Mehrdeutigkeit – kurz: VUCA – waren die Schlagwörter der Veranstaltung. Sie fassen das allgegenwärtige Lebensgefühl – die Wahrnehmung der Realität – treffend zusammen. Märkte und Kultur entwickeln sich rasend schnell, genauso schnell müssen Entscheidungen getroffen werden. Auf der einen Seite fehlen oft die nötigen Entscheidungsgrundlagen, um eine Eindeutigkeit herzustellen. Es gibt nicht (mehr?) das Richtig und das Falsch. Auf der anderen Seite können Unternehmen ihren Mitarbeitern längst nicht mehr eine derartige Sicherheit (einmal Eisenwaren Schmitz – immer Eisenwaren Schmitz) bieten.

Es geschieht nicht ohne Grund, dass Unternehmen die relative Sicherheit einer hierarchisch bürokratischen Organisation zumindest teilweise verlassen und so ganz neue Verhaltensfelder öffnen. Große Chance für einige, empfundene Bedrohung für andere. Was als Globalisierung in den Industrienationen früher oft nur als Erweiterung der Märkte gesehen wurde, entfaltet eine ganz neue Dynamik – die exponentielle Steigerung von Vernetzungen hat Märkte beschleunigt, das Feld der Konkurrenz weit geöffnet und Markteintrittsmöglichkeiten und auch die Innovationsgeschwindigkeit erhöht. Diese Dynamik verlangt organisatorische Antworten und zugleich neue Fähigkeiten und Haltungen bei den Führungskräften. In Köln wurde beides sichtbar – Unternehmen stellen sich dieser Herausforderung und suchen danach, wie dies in tradiertes, bisher erfolgreiches Handeln integriert werden kann. Eine belebende Atmosphäre des suchenden Dialogs entstand.

Wie können wir als Menschen und als Organisationen auf VUCA reagieren? Oder vielmehr: Wie kommen wir aus der reaktiven Rolle heraus und nutzen die Chancen, die VUCA uns bietet? Wieviel VUCA verantworten wir selbst und wie wollen wir unsere Unternehmen weiter gestalten? Die Sophia, als Dialog, Lern- und Erfahrungsort ist ein Workshopformat, das selbst schon eine Antwort ist. Es belässt viel Eigeninitiative bei den Teilnehmern, gibt die Lernverantwortung an die Teilnehmer zurück und sorgt dennoch für sichernde und stabilisierende Situationen. Individualität, Freiheit und Gemeinschaftlichkeit werden hier in eine produktive Balance gebracht.

Raus aus dem Gewohnten, den starren Prozessen, der eingeschränkten Sichtweise, etwas ganz anderes tun – oder etwas Gewohntes ganz anders. Eine bereichernde und inspirierende Erfahrung, die manchmal aber auch das Verlassen der eigenen Komfortzone verlangt. »Das kann ich sowieso nicht«, »OK, mach ich, aber schön ist’s nicht«, »Was soll das überhaupt« – typische Gedanken und Gefühle von Menschen in Change-Prozessen, und seien sie selbst noch so veränderungswillig, kreativ, flexibel, initiativ und resilient.

Dennoch gelang es dank dem freundschaftlichen und inspirierenden Rahmen der SOPHIA, einen geschützten Raum zu schaffen, in dem die Teilnehmenden sich ausprobieren, darstellen, Grenzen ausloten konnten. So zum Beispiel anhand des Projekts »Me-enactment – inszenierte Selbstportraits«. Gemeinsam mit der Berliner Fotokünstlerin Bettina Cohnen erarbeitete jeder Teilnehmer ein individuelles Konzept zur Selbstdarstellung. Sofort stellten sich nicht nur die Fragen »Wer bin ich und was macht mich aus?«, sondern vor allem auch »Was will ich nach außen preisgeben und auf welche meiner vielen Facetten lege ich mich in der Kommunikation fest?«.

Tag für Tag leben wir mit der eigenen Komplexität, ja sogar Widersprüchlichkeit. Doch in Zeiten von Social Networks & Co. müssen wir zusätzlich damit umgehen, dass Botschaften, die wir aussenden, eine ganz eigene Dynamik entwickeln, die wir kaum noch beeinflussen können. Am Ende der SOPHIA hielten die Teilnehmer nicht nur spektakuläre Selbstportraits von sich in der Hand, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Die Fotografien wurden auch den anderen Teilnehmern präsentiert und so »der Öffentlichkeit« preisgegeben. Jeder durfte die Portraits der anderen mit Begriffen auf Zetteln bestücken, so dass die Vieldeutigkeit einer Darstellung ebenso wie die ganz individuellen Interpretationsmöglichkeiten auch direkt »ausgehalten« werden mussten.

Apropos »aushalten«: Dass es in der heutigen Zeit fast unmöglich ist, in einem Thema Experte zu sein und auch zu bleiben, durften die Teilnehmer an mancher Stelle erfahren. Ob beim kreativen Lego-Zusammenbauen oder beim Brainstormen und Clustern zu den Fragen, wie man als Mensch/Führungskraft/Organisation auf VUCA reagiert – stets war die Kunst der Improvisation gefragt.

Dasselbe galt auch für die zwei Musiker, die am Freitagabend ins SYNNECTA-Haus eingeladen waren. Der Gitarrist Vincent Themba und die Bassistin Ulla Oster hatten sich zuvor noch nie gesehen. Die Teilnehmer durften miterleben, wie aus dem Stegreif ein minimalistisch inszeniertes Konzert entstand, in dem die Künstler teils dialogisch, teils sich in der Führung abwechselnd, teils im gemeinsamen Flow große Wirkung erzielten. Im Anschluss entstand ein anregendes Gespräch über Improvisation, eigene Haltungen, Rollen und Beziehungen zwischen Menschen und Zusammenarbeiten und -sein. Entgegen den Vermutungen vieler Teilnehmer, die in ihren Fragen immer wieder auf Führen und Machtverhältnisse zu sprechen kamen, ging es den Musikern im Gespräch um das Vertrauen – in sich selbst, und auch in den Anderen. Vertrauen sozusagen als Grundhaltung: dass man gemeinsam wie auch alleine schon etwas Gutes schaffen wird.

Auch an anderen Orten der SOPHIA tauchte der Begriff »Vertrauen« immer wieder auf. Wichtig dabei: Es geht nicht um Vertrauen, das auf Tradition und Erfahrung ruht. Sondern jenes, das man schenkt und geschenkt bekommt. Die Erwartung, jemand solle es sich erst einmal verdienen, wird so gut wie immer enttäuscht – denn gerade in der VUCA-Welt werden wir alle an großen und kleinen Dingen immer wieder scheitern. Vertrauen macht uns verletzlich, und das verlangt sozialen Mut. Und soll es denn eine beständige Haltung werden, impliziert Vertrauen auch die Fähigkeit zur Vergebung – seinen Mitmenschen, Mitarbeitern, vor allem aber auch sich selbst. Vergebung sorgt dafür, dass Vertrauen weiter bestehen kann und dass wir wertvolle Energie nicht ans »Warum« des Scheiterns verschwenden, sondern den Blick weiten, Neues ausprobieren, an Probleme mit ungewohnten Strategien herangehen. Das macht uns einerseits resilient, und ermöglicht andererseits Innovation und »weiche« Werte wie Intuition, kindliche Naivität (als Voraussetzung für Kreativität), das Aushalten von Ambiguität und nicht zuletzt Selbstreflexion.

Selbstreflexion war ein großer Bestandteil der Tour de Cologne. In drei ganz unterschiedlichen Führungen über den Kölner Melaten-Friedhof, das Rautenstrauch-Jost-Museum und zwei Kölner Kirchen wurden mit behutsamen Inputs und Interaktionen Schwerpunkte auf das Erleben gesetzt, gleichzeitig hatten die Teilnehmer Zeit zu reflektieren. Neben der Erfahrung, sich die Stadt als Erlebnisraum und als Ort zum Innehalten verfügbar zu machen, entstanden ganz spontan und überraschend einige überwältigende Momente.

Der Sinn menschlichen Handelns und irdischen Daseins wurde mit dem Vortrag von »Astro-Entertainer« Christian Preuß gewaltig in Frage gestellt. Fundierte und bewusstseinserweiternde Perspektiven, die er auf die Erde, die Galaxien und das gesamte Universum gab, eröffneten ganz neue Varianten von VUCA: In der Undurchschaubarkeit, Unvorhersehbarkeit und fehlenden Systematik des Alls herrschen »echte« VUCA-Zustände. Damit stellte sich gleichzeitig die Frage, ob die von uns wahrgenommenen VUCA-Zustände in unseren Alltagen nicht eigentlich harmlos sind – im Vergleich dazu. Auf mitreißende Art vermittelte Christian Preuß die für den Menschen kaum erfassbare Vielfalt und unendliche Größe des Alls, die erstaunlichen Dynamiken der Galaxien und Planeten. Diese Aha-Erlebnisse führten dazu, dass plötzlich jeder Teilnehmer sich selbst auf angenehme Art und Weise »klein« und unsere Welt als viel weniger bedeutend und bedrohlich erlebte. Anschließend guckte man auf dem Dach des Maritim-Hotels mit Teleskopen in den Nachthimmel und ließ das Erfahrene noch tiefer wirken.

Klein sein, oder sogar auch mal Kind sein, konnte sicherlich als eine der vielen VUCA-Resilienz-Strategien von der SOPHIA mit nach Hause genommen werden. Wir – privat und in Unternehmen – können VUCA nicht nur überleben, sondern leben und nutzen, wenn wir zwischendurch wie Kinder unvoreingenommen und ohne definiertes Ziel an Probleme und Aufgaben herangehen. Wenn wir nach jedem gescheiterten Versuch einfach wieder aufstehen und es mit neuer Taktik versuchen – und erfolgreiche Taktiken verwerfen, sobald diese zu bröckeln beginnen. Und wenn wir die Fülle, die sich uns bietet, ungeniert ausnutzen, um damit zu spielen, experimentieren und schließlich zu produzieren. Bewusst ganz ohne erklärten Sinn dahinter marschierten alle SOPHIA-Teilnehmer nach getaner Arbeit zu »Kölns bester Eisdiele«, ein nagelneues Aufzieh-Spielzeug in der Tasche, um die letzten gemeinsamen Momente zu genießen und VUCA-gestärkt ins »echte«, vielleicht aber gar nicht immer so ernste Leben zurückzukehren.

SYNNECTA in Indien: Eingeladen auf dem 2nd National Summit on Learning & Development

Bangalore, 27 Grad Celsius, reges Treiben auf vollen Straßen, die Sonne scheint durch eine urbane Geräuschkulisse. Davon bekommen wir, die Teilnehmenden der Konferenz, nichts mit. Die fensterlosen Konferenzräume sind von Klimaanlagen auf sechzehn Grad abgekühlt. Zu kalt für hitzige Schlagabtausche, dafür eine Atmosphäre kritischer und konstruktiver Auseinandersetzung mit brandaktuellen Fragen um das Thema »Beyond Learning – L&D as architect of Sustained Organization Development«. Die Atmosphäre und die Gespräche sind konzentriert, neugierig, offen und freundlich.

Im Oktober waren wir vom indischen NHRD zum 2nd National Summit on Learning & Development in Bangalore als offizieller Knowledge-Partner eingeladen. Umgeben von indischen HRlern, Psychologen, Führungskräften, Entscheidern und Entscheiderinnen, Leadership Architects, Organisationsberatern und Studierenden einer Business School, fallen wir als einzige Nicht-Inder auf. Was bedeutet es, als deutscher Knowledge-Partner auf einer indischen Konferenz eingeladen zu sein? Was haben wir dort erlebt, und was heißt das für unsere Arbeit?

Auf der Konferenz bewegen Fragen nach dem Umgang mit VUCA in globalen Zuständen und Fragen nach dem Sinn täglichen menschlichen Handelns und organisationalen Gestaltens. In den Antworten liegt eine Annahme zugrunde: dass organisationale Strukturen durch Menschsein und Sich-Miteinanderverhalten entstehen. In Bezug auf nachhaltiges Handeln in Organisationen ist dann Beziehungsgestaltung bedeutender als die Verteidigung eigener Absichten. In Rüdiger Müngersdorffs Panel »Transformation – Role of L&D- From Solution provider to Proactive influencer of change« waren sich die SprecherInnen einig, dass proaktives Verhalten von Einzelnen Wandel und Veränderung in Organisationen erst ermöglicht und dass L&D-Abteilungen mit entsprechenden Werkzeugen und Kompetenzen ausgestattet sein müssen, um handlungsfähig zu sein. Dazu gehört die Fähigkeit, Beteiligungskonzepte als Bottom-up-Architekturen implementieren zu können – ein Können, das in Zeiten von top down gestalteten, kaskadierenden Konzepten derzeit eher verlernt wird. Lebendigkeit, Agilität, Wachheit, Geschwindigkeit wird sich, da waren sich die Teilnehmer einig, nur aus der Organisation, also middle-bottomup entwickeln lassen.

Inspiration gaben uns Erkenntnisse/Aussagen wie diese:

  • Partizipation: VUCA kann nur unter Beteiligung aller Menschen im Unternehmen adäquat begegnet werden, denn VUCA ist kein Problem des Subjekts, sondern ein strukturelles globales Phänomen, mit dem aus der Logik des Kollektivs heraus umgegangen werden muss. Die Performanz des Einzelnen erhält erst Bedeutung im Kontext der Anderen und muss motiviert sein von der Frage nach geteilten Werten.
  • Spiritualität: der Sinn täglichen Handelns ist spirituell motiviert und gemeinsame Werte sind eine zentrale Voraussetzung für die Gestaltung von Organisationen. Spiritualität ist kein Selbstzweck.
  • Veränderungsbereitschaft: Lernen geschieht unter einer wichtigen Voraussetzung: des Verlernens. Dazu gehören das Bewusstmachen bestehender Zustände und der Wille zur proaktiven Transformation.

Was hat uns überrascht? Der Begriff VUCA in all seinen Bedeutungsebenen war ein zentrales Thema. Merkmal aller Panels war das kritische Beleuchten herkömmlicher, konventioneller L&D-Strategien: Klassische Führung und Senior-Leadership mit all ihren dominanten Elementen wurden hinterfragt und Partizipation sowie organisationale Entwicklung über funktionale und Hierarchiegrenzen hinweg befürwortet.

Die Begegnungen mit Menschen, ihren Themen und Haltungen bedeuten für uns inter- oder transkulturelles Lernen. Sie bringen uns, weitweg von theoretischen Analysen, unmittelbar ins direkte Erleben und nehmen Einfluss auf unsere Weltenbilder. Mit neuen Geschichten, bereichernden Perspektiven auf uns und Andere lassen wir den Pashmina an und sind gut gestärkt für den Winter in Deutschland.

Hanna Göhler

www.nationalhrd.org

VUCA-AIKIDO: Sechs Grundhaltungen für eine neue Souveränität im Unternehmen (VUCA-Handling V)

Wenn du angegriffen wirst,
schließe deinen Gegner ins Herz.

(Ueshiba Morihei, Begründer des Aikido)

In den vorhergehenden Beiträgen der Serie »VUCA-Handling« habe ich (nach einer Skizze, was unter VUCA zu verstehen ist) konkrete Alternativen bezüglich Strategieansatz, Organisationsform und Teamarbeit vorgestellt. In diesem Beitrag möchte ich in einer Art Zwischenresümee zur Diskussion stellen, mit welchen prinzipiellen Grundhaltungen man sich in der VUCA-Situation Resilienz und neue Souveränität aufbauen kann.

Grundsätzlich möchte ich dazu vorausschicken, dass das VUCA-Konzept unter keinen Umständen als Entschuldigung für eine »selbst verschuldete« Situation missbraucht werden sollte. Jede Führungskraft und jede(r) Mitarbeitende sollte sich reflektiert mit der Frage auseinandersetzen, wo ihr/sein aktiver Part an der VUCA-ness der Situation besteht. Anschließend kann man sich die Frage stellen, wo und wie man Volatilität in Stabilität, Unsicherheit in Sicherheit, Komplexität in Einfachheit und Ambiguität in Eindeutigkeit (zurück) transformieren kann.

In vielen Fällen gibt es jedoch Bereiche des (Arbeits-)Lebens, in denen VUCA nicht (re-)transformiert werden kann. Um hier handlungsfähig zu bleiben, bedarf es einer integrierenden Antwort auf VUCA: Wenn ich die Situation nicht aktiv gestaltend verändern kann, so kann ich sie dennoch »umarmen«. Mit dieser Haltung ist es möglich, dem Opferstatus in der VUCA-Situation zu entkommen.

In einem meiner ersten Beiträge in diesem Blog habe ich mit Referenz auf den italienischen Philosophen Giorgio Agamben die Situation von Unternehmen als »Ausnahmezustand« reflektiert – dessen Charakteristika decken sich eins zu eins mit der als VUCA beschriebenen Situation. In dem gleichen Beitrag wurde bereits die Künstlerin und Kulturphilosophin Yana Milev vorgestellt, die mit ihrem »Emergency Design« in Spontaneität, situativem Handeln und Kreativität die vielversprechendsten Antworten auf den Ausnahmezustand erblickt. Unter anderem plädiert sie dafür, ein Emergency Design nach Aikido-Prinzipien aufzubauen. Milevs Idee für den sozio-politischen Kontext möchte ich aufgreifen und für den wirtschaftlichen VUCA-Kontext in Dienst nehmen. Wie könnte eine erfolgreiche Aikido-Reaktion im Unternehmen aussehen?

Wie oben bereits aufgeführt: Unsere bewährten Reaktionsansätze auf Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität zielen auf die Wiederherstellung von Stabilität, Sicherheit, Einfachheit und Eindeutigkeit ab. Immer öfter erweist sich diese »Kampfstrategie« jedoch als unbrauchbar. Im Gegensatz dazu versucht ein VUCA-AIKIDO nicht, den alten Zustand wieder herzustellen, sondern zielt auf eine fließende, balancierte Harmonie (AI) zwischen Energie (KI) und Weg (DO) ab. Der Japaner Ueshiba Morihei entwickelte Anfang des 20. Jahrhunderts das Aikido als betont defensive Kampfkunst. Ihr generelles Ziel ist nicht der Sieg über den Gegner, sondern die Abwehr und Sicherung ohne offensiven Angriff. Dabei versucht ein Aikido-Kämpfer, die Kraft des gegnerischen Angriffs im ersten Schritt abzuleiten, um nicht getroffen zu werden. Im zweiten Schritt wird dieselbe Kraft dann umgeleitet und gegen den Gegner selbst geführt: Dieser wird quasi mit seiner eigenen Kraft vorübergehend kampfunfähig gemacht. Analog dazu geht es im VUCA-AIKIDO darum, sich selbst so zu positionieren, dass man von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität nicht mehr getroffen werden kann. Zusätzlich ist der Blick darauf zu werfen, wie die vier auf den ersten Blick destruktiv wirkenden VUCA-Attribute zum eigenen positiven Effekt genutzt werden können.

Ohne weiter ins Detail zu gehen, möchte ich folgende sechs Grundhaltungen als Fokuspunkte eines VUCA-AIKIDO vorschlagen:

Agilität: Ich begreife mich in meiner Selbstwirksamkeit und strebe nach größtmöglicher Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Ich bin aktiv, wach, leicht, schnell, wendig, reaktiv, anpassungsfähig und in Bewegung. Ich verfüge über Puffer, die mich jedoch nicht behindern. Ich bin sinnvoll risikobereit.

Inspiration & Intuition: Ich bin begeistert: intellektuell angeregt, motiviert, stimuliert. Ich schenke anderen und mir selbst Vertrauen. Ich traue meiner Erfahrung, agiere pragmatisch, kann improvisieren. Gleichzeitig bin ich offen für neue Ideen und Experimente. Ich wertschätze Fehler als Chancen zu lernen.

Klarheit: Ich weiß um den Sinn, den ich mit meinem Tun stifte. Ich bin mir meiner Werte bewusst, an denen ich mein Handeln ausrichte. Ich kenne (meine) Grenzen. Ich verstehe meine Rollen. In all dem bin ich für mich und andere transparent. Ich entscheide zügig und setze Entscheidungen konsequent um.

Inter-Aktivität: Ich gebe ohne sofort nehmen zu müssen. Ich lade kontinuierlich zum Dialog ein. Ich bin in guter Verbindung mit vielen anderen Menschen. Ich nutze meine Einflussmöglichkeiten und bin mir der Einflüsse auf mich bewusst. Ich nutze die Schwarmintelligenz und Viralität meines Netzwerks.

Diversität: Ich wertschätze und fördere die mich umgebende Vielfalt. Ich bin offen für andere Perspektiven und kann sie empathisch nachvollziehen. Ich begreife mich selbst in meiner Mannigfaltigkeit und kann in unterschiedlichen Rollen agieren. Ich mache einen Unterschied.

Organizismus: Ich begreife mich als aktiven Teil eines (sozialen) Ökosystems und habe das stabile Ungleichgewicht des Ganzen im Blick. Ich agiere synergieorientiert. Ich lerne kontinuierlich. Ich ziehe das Werden dem Sein vor. Ich wertschätze das Jetzt im Fluss. Ich liebe und ehre das Leben!

Mit diesen sechs Grundhaltungen eines VUCA-AIKIDO kann man im Unternehmen eine grundsätzliche VUCA-Resilienz aufbauen und unter veränderten (bzw. sich ständig verändernden) Vorzeichen weiterhin souverän agieren!

Mir ist bewusst, dass diese Prinzipien in zusammengefasster Form abstrakt klingen und für den Unternehmenskontext noch mehr konkretisiert werden müssen. Dem aufmerksamen Leser dieses Blogs wird jedoch so manche Grundhaltung bereits in konkreterer Form in einem Beitrag begegnet sein. Auch die kommenden Kurztexte werden im Rückgriff auf Philosophie, Sozial- und Kulturwissenschaften möglichst konkrete Vorschläge erarbeiten, wie ein VUCA-AIKIDO im Unternehmen in der Praxis realisiert werden kann.

Johannes Ries