Bildung/Training

Es wird jetzt viel von Bildung gesprochen, von politischer Bildung, von Bildung allgemein und von Führungsbildung im besonderen. Blickt man jedoch auf die Bildungslandschaft von Unternehmen, dann ist da wenig Bildung zu finden. Was zu finden ist, ist vielmehr der Versuch, den reichen Schatz der Kulturen nach geeigneten Tricks und Methoden zur Performancesteigerung zu durchsuchen und auszubeuten. Es geht um Werkzeuge, die direkt umsetzbar sind und die einem möglichst messbaren Nutzen bringen. Nachvollziehbar, denn das entspricht der Logik unternehmerischer Systeme. Dabei wird das Potenzial von Kultur und Bildung leider verfehlt und die Methoden und Tricks verflachen wie jede Modewelle nach einiger Zeit.

In der Bildung geht es um das Vermögen der Distanznahme, mit der auf der Grundlage vieler zweckfrei gewonnener Erfahrung Reflexion und Differenzierung möglich wird, weil ein weiter Raum unterschiedlichster Perspektiven eingenommen werden kann. Bildung braucht Zeit, freie, entlastete Zeit und neben dem Mut zur Auseinandersetzung auch die innere Freiheit, sich auf den Reichtum der Kultur einzulassen und sich in seinen sicheren Denk- und Urteilsmodellen erschüttern zu lassen. Wo soll bei dem Performancedruck und des doch stetig ansteigenden Investments von Lebenszeit für eine Karriere die entlastete Zeit herkommen?

Es gibt solche Zeitflecken in der Unternehmenswelt – sie wurden früher mal Seminare genannt und sind heute Trainings. Leider werden sie mehr und mehr zu Trainings, zu Räumen der Vermittlung der Techniken, von denen sich Trainingsstrategen unter dem Druck der eigenen Führung schnellen Nutzen versprechen. So wird Empathie zu einer psychologischen Technik, einem Führungsinstrument, um den eigenen Führungswillen besser durchzusetzen und Leistungssteigerungen beim Mitarbeiter zu erzielen. Narzissten, und sie stellen eine Mehrheit in den Führungsriegen, verstehen sich gut darauf, Empathie als Mittel einzusetzen. Würden wir uns um Bildung kümmern, dann würden wir anstatt von Empathie von Compassion sprechen und sehr schnell erkennen, dass diese nur möglich ist, wenn Menschen in einem weiten Horizont von Verständnissen der menschlichen Möglichkeiten leben und dies nicht nur wissen, wie ein Speichermedium etwas weiß, sondern als Erfahrung gewonnen haben – also etwas haben, das man früher Herzensbildung genannt hat.

Darüber mit Trainingsspezialisten, die selber unter Performancedruck stehen, zu sprechen, führt dann häufig zu Ergebnissen wie: Kann man das auch in zwei Tagen machen? Oder können wir es nicht durch blended learning gestalten? Wiederum sehr verständlich in der leitenden Unternehmenslogik, aber sicher nicht sehr klug. Oft wird vergessen, wie wesentlich für Bildungserlebnisse die Begegnung mit Menschen ist und oft mit einem Lehrer, der mit seinem Herzen für die Bildungsinhalte steht. In Indien gibt es noch das Wissen, dass es eines Gurus bedarf, wenn man Menschen die Möglichkeit gibt, auf dem Weg der Bildung zu wachsen und so ohne den Zweckkurzschluss am Ende doch bessere Führungskräfte zu werden. Für Bildung bleibt Schillers ästhetische Erziehung der Schlüsseltext und sein Votum für das zweckfreie Spiel der Königsweg zu einer Bildungsreise.

Rüdiger Müngersdorff

Resilienz und gesunde Unternehmenskultur – ist jeder für sich selbst verantwortlich?

Grundlegender Wandel

Mit der Digitalisierung und damit verbundenen Flexibilisierung der Arbeitsformen lösen sich klassische betriebliche Strukturen auf. Neue Möglichkeiten entstehen, selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu arbeiten. Diesen positiven Entwicklungen stehen jedoch widersprüchliche Anforderungen gegenüber. Immer weniger und immer ältere Fachkräfte müssen den steigenden Zeit- und Leistungsdruck bewältigen. Psychische Erkrankungen mit langen Fehlzeiten und vorzeitigem Ausscheiden aus dem Berufsleben nehmen rasant zu. Entsprechend steigen auch die Kosten für Arbeitsunfähigkeitstage bzw. die Krankheitskosten für Unternehmen und Gesellschaft.

Führung und Kultur beeinflussen die Gesundheit der Mitarbeitenden

Wir zeigen mit aktuellen wissenschaftlichen Studien, dass Führung und kulturelle Faktoren wichtige Ressourcen für die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter bieten. Gelungene Sinnstiftung, wertschätzende soziale Beziehungen, soziale Unterstützung, Partizipation und eine konstruktive Fehlerkultur schützen vor den Gefahren der verdichteten Arbeitswelt. Doch mit der Flexibilisierung verändert sich der Einfluss von Führung auf die Gesundheit der Beschäftigten. Die Anforderungen an die Selbstorganisation steigen und die unterstützenden Strukturen nehmen ab.

Wettbewerbsfaktoren: Gesundheit und Resilienz

Für uns sind Gesundheit und Resilienz vernetzte Prozesse und nicht trennbar von Führung und Arbeitsorganisation. Sie hängen eng mit Themen wie Arbeitgeberattraktivität, Recruiting und Mitarbeiterbindung zusammen. Führungskräfte stehen vor der Herausforderung, in den Zeiten des Umbruchs ein kohärentes Bild zu vermitteln und Sinn zu stiften. Mehr Flexibilisierung erfordert im besonderen Maße Übersetzungsleistungen zwischen den beteiligten Stakeholdern. Denn Gesundheit ist ein vielschichtiger Begriff, der neben Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz auch Wohlbefinden, work-life-balance und Mitarbeiterzufriedenheit umfasst.

Betriebliches Gesundheitsmanagement in Partizipation

Erfolgreiches Gesundheitsmanagement erfordert heute mehr denn je einen partizipativen und auf Dialog basierenden Managementansatz. Das Gesundheitsmanagement sollte auf Ganzheitlichkeit und Nachhaltigkeit ausgerichtet sein. Welche Formen, Methoden und Ansätze für BGM sinnvoll und wirksam sein können, ist von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich.

SYNNECTA Tischrunde bietet Austauschforum zu »Resilienz und Gesundheit«

Am 30.03.2017 möchten wir mit Ihnen in Köln diskutieren, wie Sie Ihr Human Resources- und Gesundheitsmanagement in der flexibilisierten Arbeitswelt gestalten. Welche Anforderungen sind bei Ihnen am dringlichsten? Welche individuellen und unternehmerischen Ressourcen nützen Ihnen? Wie gestalten Sie das Gesundheitsmanagement passend zu Ihren Bedürfnissen? Wie ergänzen sich die Kompetenzen von Personen in einem Unternehmen sinnvoll im Umgang mit Stress? Warum nehmen Führungskräfte häufig ihren Krankenstand mit? An welchen Anzeichen können Führungskräfte Überlastungen erkennen? Was können wir Ihnen als Berater bieten?

Unsere SYNNECTA Tischrunde bringt Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Unternehmen und Branchen für einen konstruktiven Austausch zusammen. Gemeinsam werden Erfahrungen und Ideen beleuchtet und neue Ansätze für ein erfolgreiches BGM erörtert. Wir freuen uns auf einen anregenden Dialog und praktische Übungen. Für diese Tischrunde haben wir einen besonderen Ort ausgewählt: Der »Tajet Garden« ist ein Seminarzentrum für Körper und Energiearbeit und wird das Interesse an gesunder Lebensweise wecken.

Mehr Informationen zur Bedeutung von Führung und Kultur für die Gesundheit und Resilienz im Unternehmen finden Sie in Markus Wiencke et al. (Hg, 2016), Healthy at Work. Interdisciplinary Perspectives, Springer International, Switzerland.

Bernd Burkhardt-Patzina, Diplom-Psychologe
Dr. Markus Wiencke, Diplom-Psychologe & Ethnologe M.A.

Alter!

»Eine Gesellschaft, die das Alter nicht erträgt, wird an ihrem Egoismus zugrunde gehen.« Willy Brandt

Wie alt bist Du?

Mit sechs Jahren fühlte ich mich alt. Weil bald die Schule anfangen würde. Mit achtzehn nicht erwachsen. Und jetzt? Je nachdem, wer mich anschaut und mit mir spricht, dann fühle ich mich jung, mittel, alt. Oder frisch, unfrisch, erfahren, unerfahren. Warum will die Dermatologin mir Anti-Falten-Cremes verkaufen? Ich dachte, die Gen Y ist immer jung?

Wer geboren wurde, ist rechtsfähig. Ob Schulpflicht, Strafmündigkeit oder Wahlrecht: Altersstufen und Altersgrenzen markieren besondere Abschnitte in unseren Biographien. Zeit, Anfang, Ende, Entwicklung, Veränderungen. Das eigene Alter ist nur eine simple Zahl, aber bringt Welten von Bedeutungen mit sich. Ein gesellschaftliches Konstrukt: Es gibt ein kalendarisches und soziales Alter, ein psychologisches und biologisches Alter. Diese Festlegungen folgen keiner natürlichen Notwendigkeit, sondern sind gesellschaftliche Übereinkommen, mit denen wir aufwachsen, und die wir nicht selten als gegeben annehmen. Von solchen Festlegungen lassen wir unsere individuelle Identität prägen. Für Unternehmen und im Diversity Management spielt das Alter von Mitarbeitenden ebenfalls eine große Rolle, etwa im Jugendarbeitsschutzgesetz, bei Kitaplätzen im familienfreundlichen Betrieb oder bei der Altersvorsorge. Aber auch in Bezug auf Funktion, Stellenbesetzung, Teamzusammensetzung, und im Alltag auf Verhaltensebene zwischen einzelnen Mitarbeitenden.

Der Begriff »Alter« bezieht sich auf jedes Lebensalter. Und zu jeder Altersstufe gibt es Zuschreibungen. Hinter »jung« oder »alt« stecken oft Vorannahmen und Vorurteile: Etwa, dass junge Menschen wenig Erfahrung hätten oder ältere nicht mehr flexibel seien. Für uns als Organisationsberater stellt sich die Frage: Welche Art von Zuschreibungen, Regeln und Normen sind maßgebend und formen die Organisationskulturen? Was bedeutet das für das Arbeitsklima und die Leistungs- und Arbeitsprozesse? In international agierenden Unternehmen kommt die Frage hinzu, inwieweit im globalen Team die Bedeutungen von Alter und die entsprechenden Erwartungen differieren, die abhängig und geprägt sind von Kultur und Gesetzen eines Landes.

»Nichts zeigt das Alter eines Menschen so sehr, wie wenn er die junge Generation schlecht macht.« Hermann Hesse

Im Jahr 2020 wird jeder zweite in Deutschland über 50 Jahre alt sein. Alle Generationen müssen das jetzt, hier und heute, bewusst notieren und in ihre Agenden aufnehmen. Es geht um Prozesse des Alterns, aber auch um die Integration verschiedener Generationen. Denn zwar altert Deutschland, aber die internationale Migration verbunden mit dem Fachkräftemangel bringt junge Generationen ins Unternehmen. Das ist keine Zukunftsmusik, sondern passiert gegenwärtig. In einem holistischen DiM-Ansatz sollte es deshalb realistischerweise um die Bedarfe und Bedürfnisse aller Generationen und Altersstufen gehen. Bei allen Mitarbeitenden sollte das Bewusstsein geschaffen werden, dass alle Mitarbeitenden voneinander lernen können. Das ist leichter gesagt, als getan.

Ganz gleich, auf welcher Kategorie im DiM der Fokus liegt: In Unternehmenskulturen, in denen hierarchische Karriereleitern, Senioritätsprinzipien und Autoritätshörigkeit zur Normalität gehören, erfordert die Entstehung eines neuen Bewusstseins enorme Veränderungen sowohl in der persönlichen Haltung und im alltäglichen Umgang miteinander als auch in den organisationalen Strukturen. Egal, wie alt du bist.

In Bezug auf die Frage, was Alter mit Erfahrung und Fähigkeit zu tun hat, plädiere ich für eine dekonstruktivistische Haltung. Habt Vertrauen in das (jeweilige) Alter und in die Individualität des Menschen. Die Mentalität und Performativität sollten ausschlaggebender sein, als das Bild im Kopf, das ich über mich oder dich habe. PS: Ich werde keine Anti-Falten-Creme benutzen.

Bei unserer Tischrunde »Diversity« am 21. April 2016 diskutieren wir mit Ihnen über die Möglichkeiten von OE-Maßnahmen zur Kategorie Alter sowie zu Herkunft und sexuelle Orientierung und zeigen Ihnen unsere SYNNECTA »Growing Diversity«-Beratungsansätze.

Hanna Göhler

Kultursensibilität ermöglicht ein wirksameres Change Management: Unternehmenskultur als diskursives Spannungsfeld

Beginnend mit dem Hawthorne Experiment beschäftigt sich die Ethnologie seit den 1920er Jahren eingehender mit den kulturellen Dimensionen von Organisationen und Unternehmen. Heute erkennen Wirtschaft und Management, dass die Kultur von Unternehmen eine nicht zu unterschätzende Ressource für wirtschaftlichen Erfolg darstellt. In den Debatten darum, was Unternehmenskultur denn ist bzw. wie sie zu definieren ist, haben sich dabei zwei Strömungen herauskristallisiert: Während die eine Seite davon ausgeht, dass jedes Unternehmen eine Kultur hat (instrumentelle Sicht, Objektivismus, Unternehmenskultur als Subsystem), argumentiert die andere Seite, dass jedes Unternehmen eine Kultur ist (institutionelle Sicht, Subjektivismus, Unternehmenskultur als umfassendes System) (vgl. z.B. Franken 2004: 219f). Beide Seiten vernachlässigen dabei jedoch oft den grundsätzlich dynamischen Aspekt von Kultur.

Für die folgende Analyse wird Unternehmenskultur als ein diskursives Spannungsfeld betrachtet, in welchem Mitarbeitern verschiedene Optionen des Handelns zur Verfügung stehen. Diskurse werden dabei in Anlehnung an Rainer Kellers Konzept der wissenssoziologischen Diskursanalyse (Keller 2005) verstanden als
»inhaltlich und formal strukturierte Ensembles von sinnstiftenden Einheiten, die in einem spezifischen Set von Praktiken produziert werden – strukturierte Verknüpfungen von Deuten/Handeln. Sie verleihen […] sozialen Phänomenen Bedeutung und konstituieren dadurch deren gesellschaftliche Realität. Sie sind Ausdruck und Konstitutionsbedingung des Sozialen zugleich.« (Keller 1999)

Ein Diskurs umfasst – dem Ethnologen Wolfgang Kaschuba folgend –

  1. ein festes Argumentationssystem,
  2. ein System, das einen Themenraum absteckt und Umgangsregeln festlegt,
  3. ein Denksystem, das die Wahrnehmung von Wirklichkeit konfiguriert und
  4. ein soziales Praxissystem, das Denk- und Handlungsweisen miteinander verbindet. (Kaschuba 1999: 236f)

In jedem sozialen System werden bestimmte Diskurse bevorzugt bzw. die Produktion aller Diskurse kontrolliert, organisiert und kanalisiert, um eine Ordnung aufrechtzuerhalten (vgl. z.B. Foucault 1994). Der Philosoph Jean-François Lyotard hat jedoch klar gemacht, dass ein soziales System immer von mehreren Diskursen durchdrungen ist, die sich entweder gegenseitig unterstützen oder aber in einem Widerstreit gegenseitig ausschließen (Lyotard 1987). Auch wenn ein Diskurs von den öffentlich propagierten und aktuell mächtigeren Diskursen ausgeschlossen oder unterdrückt wird, so bedeutet dies nicht, dass er keinen Einfluss besitzt oder in bestimmten Situationen nicht selbst zum tragenden Diskurs werden kann.

In dieser Betrachtungsweise ist jedes Unternehmen eine gelebte Kultur, wobei die Art und Weise, wie die Kultur gelebt wird, von (widerstreitenden) Diskursen bestimmt wird. Ein Unternehmen kann jedoch ebenfalls eine Kultur haben, etwa indem es sich in einer gezeigten Kultur offiziell, z.B. vom Top Management diskursiv verbindlich gemacht, ein Leitbild mit konkreten Werten, Normen und Regeln verleiht. Die Diskrepanz zwischen gezeigter und gelebter Kultur ist – dies zeigt sich in Change-Projekten immer wieder – eine der wichtigsten Ursachen für Unmut und Demotivation in der Mitarbeiterschaft. Widerstreitende Diskurse führen in diesem Zusammenhang in Unternehmen sehr schnell zu internen Glaubwürdigkeitskrisen, welche sich über die Mitarbeiter früher oder später nach außen tragen und die Reputation von Unternehmen, Marke und Produkt nachhaltig schädigen können.

Change Management produziert jedoch (wenn es nicht nur an der Oberfläche operiert) grundsätzlich widerstreitende Diskurse und damit diskursive Spannungsfelder: Die »alte« gelebte Unternehmenskultur (Ist-Zustand) wird mit einer »neuen« gezeigten Unternehmenskultur (Soll-Zustand) konfrontiert. Change Management ist vor die Herausforderung gestellt, aus gezeigter gelebte Kultur zu machen – einfach gesprochen, jedoch umso schwieriger realisiert. Jede gelebte Unternehmenskultur verfügt über diskursive Ressourcen, die Veränderung hin zu einer gezeigten Kultur unterstützen können; sie kann jedoch ebenso diskursive Barrieren aufstellen, welche ein erfolgreiches Change Management behindern.

Die Ethnologie wird vor diesem Hintergrund mit ihrem eigenen theoretischen, methodischen und praktischen Handwerkszeug zur Leitdisziplin für kultursensibles und damit nachhaltig wirksameres Change Management …

Johannes Ries

Der Text ist ein Auszug aus dem Beitrag »Führungs-Kraft Unternehmenswerte: Kultursensibles Change Management im diskursiven Spannungsfeld von Unternehmenskulturen«, veröffentlicht im Sammelband »Die verdeckten Spielregeln der Veränderung«, hrsg. 2015 von Johannes Ries gemeinsam mit Susanne Spülbeck im Lit-Verlag. Beziehbar über den Buchhandel.

»Empower and trust your people and you will be positively surprised!« – Exempel eines bottom-up Prozesses

Stellen Sie sich vor, Sie sind Mitarbeiter oder Mitarbeiterin in einem mittelständischen Traditionsbetrieb. Sie sind in Ihrer Organisation gut vernetzt, gelten als kreativ oder engagiert – idealerweise sogar als alles drei zusammen. In der Unternehmenshierarchie sind für Sie noch einige Schritte nach oben möglich und bisher stehen Sie bei wichtigen, strategischen Projekten sicherlich nicht an vorderster Linie.

Nun erhalten Sie eines Tages neben einigen weiteren Kollegen eine Offerte des Management-Teams: Wenn Sie Lust haben und sich bereit fühlen, sind Sie herzlich eingeladen »bottom-up« Veränderungen im Unternehmen anzustoßen, wichtige Themen einmal »out-of-the-box« zu denken und eigeninitiativ vorwärts zu treiben. Dieses Vorgehen soll im Rahmen der langfristigen strategischen (Neu-)Ausrichtung zur Förderung der Lebendigkeit und Dynamik der Unternehmenskultur beitragen. Auf diese Weise sollen in Zukunft neue Erfolge gefeiert und die erfolgreiche Firmengeschichte fortgesetzt werden. Konkret können Sie – je nach Attraktivität und persönlichem Interesse – im Rahmen einer Kick-off Veranstaltung ein Thema auswählen, das Sie anschließend eigenverantwortlich und frei gestaltbar bearbeiten dürfen. Eine zusätzlich Vergütung, ein gesondertes Zeitbudget oder anderweitig offiziell zur Verfügung gestellte Ressourcen werden Sie nicht erhalten. Als Unterstützung wird Ihnen ein Pate aus dem Management-Team zur Verfügung stehen, zudem werden optionale Coachings und Supervisionen angeboten.

Okay!? Klingt das für Sie verlockend, etwas seltsam, reichlich unklar oder irgendwie exklusiv und spannend? Fragen Sie sich vielleicht, warum ausgerechnet Sie – als die oben beschriebene Person – eingeladen sind oder was eigentlich passieren wird, wenn Sie der Einladung nicht folgen? Oder: Wie ernst meint es das Management-Team überhaupt? Und natürlich: Wie sollten Sie so etwas neben Ihren bisherigen Aufgaben noch zusätzlich meistern?

Diese und noch viele andere Fragen hatten die eingeladenen bridge people in der Kick-off Veranstaltung. Alle der knapp 30 angesprochenen Mitarbeiter folgten der Einladung und lediglich zwei sind im Laufe des Prozesses ausgestiegen – mit Begründung und natürlich ohne negative Konsequenzen für sie, sondern vielmehr als Exempel, dass dies ohne weiteres möglich war. Die Ganze Idee basierte auf Freiwilligkeit.

Aber zurück zur Kick-off Veranstaltung. Bei dieser war es gerade zu Beginn sehr wichtig, dass das Management-Team vollständig vertreten war, als sichtbares Zeichen der Wertschätzung und Relevanz des Themas. Zudem zeigten die Manager ein hohes Commitment für die Idee und standen geschlossen und sehr glaubwürdig hinter den Zielen der Initiative. Um dies zu gewährleisten, gab es im Vorfeld für das Team ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Diskussion und Auseinandersetzung. Nicht weniger wichtig waren die zwei Tage Zeit für den Kick-off selbst, die es den ausgewählten Mitarbeitern ermöglichte, sich zum einen mit den Themen, aber auch mit sich selbst als Person und als neu geschaffene Gruppe/Community auseinandersetzen zu können. So fingen die meisten – zum Teil anfänglich noch skeptischen – Teilnehmer Feuer für den anstehenden Prozess. Interaktive, dialogorientierte und emotionalisierende Rahmenelemente sowie eine an den unmittelbaren Bedürfnissen der Gruppe orientierte Anpassung der Agenda trugen dazu ihren Teil bei.

Dann: Knapp zwei Monate Zeit um Ideen zu entwickeln, die selbstgewählten Themen zu konkretisieren, verändern und bearbeiten, sich als Gruppe zu finden, weitere Kollegen zu engagieren und involvieren usw. Die Rolle der von den einzelnen Initiativen selbstgewählten Paten bestand in diesem Zeitraum vor allem darin, den typischen Management-Reflex zu unterdrücken, also weder Verantwortung zu übernehmen, zu steuern, nachzufragen oder zu kontrollieren, noch für die Initiative Dinge zu entscheiden, die diese selbst entscheiden konnte. Die Paten sollten lediglich bei Bedarf im Sinne eines Coaches unterstützen, sobald die Handlungsfähigkeit einer Initiative gefährdet war. Nachdem wenig Bedarf geäußert wurde, war dies einerseits für die meisten eine einfache Aufgabe, andererseits entstand Unsicherheit, ob dies nun als gutes oder schlechtes Zeichen zu bewerten war. Sehr verständlich! Insgesamt wurde diese Paten-Rolle von einigen Managern als durchaus neu und ungewohnt erlebt und damit als persönliche Herausforderung.

Der erste Review-Workshop zeigte zum Glück, dass das Vertrauen, die Zurückhaltung und das Loslassen gerechtfertigt waren und die meisten Einzelinitiativen »on track« waren. Auch die Mitglieder waren nach wie vor motiviert, trotz der einen oder anderen Schwierigkeit. Nachgefragt und nicht ganz unerwartet war die größte Herausforderung, Zeit für diese zusätzliche Aufgabe zu finden. Ein Teilnehmer meinte dazu jedoch sehr pragmatisch, es hätten ja alle Initiativen bereits schöne Zwischenergebnisse geliefert. Eben! Mit Hilfe der kollegialen Beratung konnte noch der ein oder andere Teilnehmer fallspezifisch Unterstützung von Kollegen erhalten und so vom Wissen und der Erfahrung der Bridge-People Community profitieren. Aus Prozesssicht war insbesondere wichtig, dass sich die einzelnen Mitglieder und Gruppen an diesem Tag als Teil einer engagierten und lebendigen Community erleben konnten.

Dann: Rund drei Monate Zeit, um die eigenen Themen weiter voranzutreiben, diesmal gekoppelt mit dem Auftrag bis zum zweiten Review-Workshop eine Entscheidungsvorlage zu erarbeiten, auf deren Basis das Management-Team beschließen sollte, ob und wie es mit den einzelnen Initiativen weiter geht.

Im Vorfeld des zweiten Review-Workshops war die Spannung beim Management-Team natürlich wieder groß: Wie werden die Ergebnisse aussehen? Wie leicht oder schwer wird es uns fallen, notwendige Entscheidungen zu treffen, und was wird damit alles auf uns zukommen? Werden wir den bisherigen Prozess als Erfolg bewerten können? Und wie werden dies die Bridge People sehen?

Beim Start des Workshops wurde eines schnell klar: Nachdem der Platz für Ausstellungsmaterial bald zu knapp wurde, war fehlendes Engagement und Motivation wohl kein Thema. Bei der Vorstellung der Ergebnisse und anstehenden Entscheidungen gab es in der Folge kreativ gestaltete Videostatements (von zwei verhinderten Mitgliedern), funktionsfähige Prototypen von möglichen Neu-Produkten, Ergebnisse einer umfassenden, europaweiten Befragung von Kollegen zum Thema CSR, detaillierte Prozessanalysen usw. Eine Initiative hatte zudem Sticker mit dem Logo der Gesamt-Initiative kreiert und als Präsent für alle mitgebracht – übrigens eine Idee aus dem ersten Review-Workshop.

In der Summe war das gezeigte Engagement, die Vielfalt und Varianz der Ergebnisse für einige doch positiv überraschend. So fiel das Voting, bei dem jeder anwesende Teilnehmer seine Top 5 Initiativen/Ergebnisse/Vorschläge auswählen sollte, nicht jedem leicht. Mit diesem Voting-Ergebnis im Gepäck ging das Management-Team anschießend in die entscheidende Runde, traf notwendige Entscheidungen, fasste Beschlüsse für das weitere Vorgehen und präsentierte dies dann der versammelten Community. Bestimmte Themen sollten in die verantwortliche Linienfunktion übergeben werden, manche als klassisches Projekt, andere in freierer Form in einem sogenannten »Joker-Team« fortgeführt werden. Bei anderen gab es die Bitte, die Vorschläge noch stärker zu konkretisieren oder auszuarbeiten. Ein Teil wurde mit entsprechender Begründung auch abgelehnt. Im Vorfeld gab es dazu von Teilnehmerseite bereits Stimmen wie »Ich treibe mein Thema trotzdem weiter, auch wenn ich jetzt vielleicht (noch) kein ›GO‹ vom Management-Team erhalte!« oder »Wenn das eigene Thema kein grünes Licht erhält, kann ich ja zu einer anderen Initiative wechseln!« Yes, wunderbar! Derartiges Ownership und Engagement wünscht man sich nicht nur als Organisationsentwickler, ist es doch eine wesentliche Voraussetzung, dass mehr Lebendigkeit und Dynamik im Unternehmen entstehen kann.

Als passendes Fazit bleiben sinngemäß die Abschlussworte des CEO am Ende des zweiten Reviews:

Es ist doch erstaunlich und sehr positiv überraschend, was alles in kurzer Zeit möglich wird. Wir haben unseren Leuten vertraut, dass sie das richtige tun werden, haben ihnen den entsprechenden Freiraum gegeben und sie einfach machen lassen. Das hat Potenziale gefördert.

Ganz genau!

Thomas Meilinger